Samstag, 30. März 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 3
Hallo lieber Leser. Sie ahnen, was jetzt kommt. Ich werde Ihnen sagen, dass ich Ihnen eine Geschichte erzählen möchte. Die obligatorische Warnung wird folgen, ich werde Sie auffordern, selber nachzudenken und selber einmal aktiv zu werden. So weit, so bekannt.

Was mich allerdings interessieren würde: haben Sie inzwischen wenigstens einmal auf einen meiner Ratschläge (wenn man sie denn so nennen möchte) gehört? Haben Sie Alltagssituationen einmal genauer betrachtet? Haben Sie selber eine Geschichte erzählt? Ich werde es wahrscheinlich nie erfahren und zugegeben, ein wenig seltsam ist das schon. Bei jeder Arbeit gibt es doch eine Art Feedback. Selbst ein Kassierer in einem Supermarkt kann an der Reaktion des Kunden etwas ablesen. Aber bei kreativen Arbeiten wird die Sache schwieriger. Musiker können auftreten, Künstler ausstellen, und Autoren eigentlich nur Lesungen geben. Um ehrlich zu sein: ich glaube nicht, dass ich jemals eine Lesung veranstalten werde. Würde es jemanden interessieren? Dieser Illusion gebe ich mich nicht hin. Und es wäre wohl auch extrem frustrierend, wenn dann niemand kommen würde. Also bleibt mir eigentlich nur darauf zu hoffen, dass mein Tun vielleicht doch den ein oder anderen motiviert, selbst aktiv zu werden.

Wenn Sie jetzt Zweifeln, ob Sie so etwas könnten, oder wenn Sie sagen, ich hätte ja als Schreibender ja leicht reden, nun, dann hätte ich da eine Idee. In allem, was man tut ist man am Anfang ja nicht gleich ein Experte. Es mag Ausnahmen geben, aber diese sind wohl eher selten. Denken Sie daran, wie Sie Ihr erstes Möbelstück aus dem IKEA Sortiment aufgebaut haben. Oder wie Sie das erste Mal selber etwas gekocht haben. Und vergleichen Sie das mit dem Jetzt. Und, besser geworden? Ich denke, wenn man einfach anfängt, und dann dranbleibt, ab und zu trainiert, übt und etwas Herzblut investiert, kann man nach und nach immer mehr erreichen. Der erste Kuchen ist vielleicht nicht schön, etwas zu trocken und ein bisschen Zucker hätte ja noch ran können, aber der 20. ist eine Augenweide und auf Partys immer sofort vergriffen.

Die eigentlich entscheidende Frage ist doch, ob ich mich traue, etwas zu versuchen. Klar, ich kann scheitern, aber wäre das immer so schlimm? Lernt man nicht auf diese Weise auch wahnsinnig viel? Ich für meinen Teil erzähle gerne Geschichten. Ich fing irgendwann einfach an, sie aufzuschreiben. Und inzwischen genügen diese Geschichten zumindest meinen eigenen Ansprüchen, und schon allein das ist ein gutes Gefühl. Seine eigene Arbeit zu sehen und sagen zu können „Ja, so gefällt mir das.“ Bis man diesen Punkt erreicht hat, kann es dauern, aber man sollte nicht zu schnell aufgeben und auch ein paar Dinge probieren.

Und deshalb probiere ich jetzt auch einmal etwas Neues. Denn die heutige Geschichte dreht sich nicht um einen jungen Mann, sondern um eine junge Frau. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es wirklich anders wird, aber ich habe so etwas noch nie getan. Es ist ein Versuch, ein Anfang. Und damit im Idealfall ein kleiner Schubser für Sie, es auch zu versuchen.


Es war gerade mal kurz nach sieben Uhr, als sich Mary den ersten Sekt einschenkte. Es kam nicht so häufig vor, dass sie ganz alleine Alkohol trank. Vielleicht hier und da mal ein Gläschen Wein, aber das war‘s dann auch. Alleine trinken hatte für sie immer etwas Seltsames, ohne, dass sie genau sagen konnte, was es war. Sie fühlte sich dabei nie so richtig wohl. Als würde man einer Art geheimen Sucht frönen. Dabei war sie weit davor entfernt, süchtig zu sein. Aber so stellte sie sich einfach den Einstieg vor: langsam alleine anfangen und dann immer wieder steigern, bis man nicht mehr aufhören konnte. So ein Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Aber heute war ihr das alles egal. Ein Glas Sekt war heute allemal drin, schließlich gab es etwas zu feiern. Das sie scheinbar alleine feiern musste, verstärkte am Ende nur den Drang nach einem Gläschen. Sie sah auf Ihr Handy. Nichts.

Mit dem Glas in der Hand ging sie in ihr kleines Wohnzimmer, stellte das Glas ordentlich auf einen Untersetzer und setzte sich auf das Sofa. Draußen wurde es langsam dunkler, und um sie herum war es fast schon gespenstisch still. Nur das Prickeln des Sekts in ihrem Glas erfüllte den Raum. Unentwegt stiegen die kleinen Bläschen auf und zerplatzen an der Oberfläche mit diesem herrlichen Geräusch. Mary betrachte das Schauspiel und musste lachen. Was für ein prickelnder Sekt, dachte sie bei sich. Obwohl, war es wirklich so? Sie erinnerte sich an etwas, dass sie vor langer Zeit gehört hatte, worüber sie aber nie groß nachgedacht hatte. Sie hatte gehört, dass diese vielen kleinen Perlen, dieses Schauspiel im Glas, gar nicht vom Sekt selbst herrührte. Vielmehr war es das Glas, das den Sekt zum Tanzen anregte. Genau, so war es. In einem vollkommen ebenen Glas, ohne Unebenheiten, ohne kleinste Staubkörnchen fand die Kohlensäure keinen Halt. Es bildeten sich keine Luftbläschen, es passierte nichts. All diese Geräusche, dieser tolle Anblick, alles war nur möglich, weil das Glas eben nicht vollkommen, nicht perfekt war.

Mary stand auf und ging zum Fenster. Wieder ein kurzer Blick auf das Telefon, doch nichts war passiert. Die Sonne sendete die letzten Sonnenstrahlen des Tages über ein entferntes Waldstück und die Schattenverläufe ergaben davor einen bedrohlichen Eindruck. Sie schaute nochmal auf ihr Sektglas, in dem das prickeln langsam abflaute. So ist es wohl immer, mit der Zeit wird alles irgendwie schwächer. Sie trank das Glas in einen Zug aus, ging in die Küche und schenkte nach. Sofort begann das Sprudeln wieder, als wäre nichts gewesen. Wenn es doch immer so einfach wäre. Einfach ein bisschen nachkippen, und alles ist wieder ok. Das Handy piepte und sie rannte ins Wohnzimmer. Als sie erkannte, dass es nur eine Mitteilung von ihrem Netzbetreiber war hätte sie das Telefon am liebsten zertrümmert. Sie begnügte sich damit, auch das zweite Glas Sekt zu leeren.

Sie nahm die Flasche und das Glas mit ins Wohnzimmer, stellte beides wieder auf die Untersetzer und stellte sich wieder ans Fenster. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Nacht erarbeite sich langsam jeden letzten hellen Fleck vom Tag zurück und hüllte alles erst in ein sanftes grau, bevor es immer dunkler wurde. Mary dachte wieder an das Prickeln, und wie es von der Perfektion verhindert werden würde. War es mit allen Dingen so? Sie sehnte sich so oft nach einem Anzeichen von Perfektion, in allem was sie tat. Sie wollte stets perfekte Arbeit abliefern, perfekte Momente erleben, den perfekten Partner haben. Aber beraubte sie sich damit vielleicht etwas? Ist Perfektion wirklich erstrebenswert, wenn sie jegliches Prickeln im Keim erstickt? Machen nicht kleine Ecken und Kanten, kleine Unebenheiten Dinge viel spannender? Sind Menschen mit kleinen Macken nicht viel interessanter?

Der Sekt begann langsam zu wirken, ihr wurde langsam immer wärmer und ihre Wangen wurden langsam rosig. Selbst wenn es so sein sollte, dass Perfektion nicht das Ziel sein sollte, bestimmte Dinge sollte man doch erwarten können. Acht Monate waren es heute. Auf den Tag genau. Aber scheinbar wusste nur sie das so genau. Vor gerade einmal zwei Monaten sah das noch ganz anders aus. Rosen, ein Essen, ein ganzer Tag der Aufmerksamkeiten. Sie wettete, dass es in zwei Monaten, wenn es dann zweistellig wäre, ähnlich sein würde. Aber heute? Nichts. Frustriert griff sie wieder zum Glas.

Erwartete sie zu viel? War es wirklich so wichtig, an solche kleinen Dinge zu denken? Reichen nicht die großen, wichtigen Momente? Ein halbes Jahr ist so eine magische Grenze, zehn Monate dann wieder so eine Grenze, bevor dann etwas später das erste Jahr folgt. Sowas vergisst keiner. Aber was ist dazwischen? War es OK, die anderen Grenzen einfach zu ignorieren? Sie war traurig, endtäuscht, zornig, aber sie wusste nicht genau, wieso. Weil ihr Handy nicht piepte? Weil sie allein war? Weil vielleicht nur sie sich so viele Gedanken machte?

Nach dem fünften Glas beschloss sie, die Flasche wegzustellen. Es war inzwischen kurz vor elf Uhr und draußen waren nur noch schemenhaft die Umrisse des Waldes zu erkennen, ein paar Wolken zogen auf, aber keine, aus denen es regnen würde. Sie blickte noch einmal auf ihr leeres Glas. So lebhaft das Treiben noch vor kurzen darin gewesen sein mag, es war verflogen. Nichts deutete darauf hin, welch Schauspiel sich dort drinnen abspielen konnte, wenn man nur die richtige Flüssigkeit einfüllte. Und alles, weil es eben nicht perfekt war. Ihr Handy klingelte…

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