Freitag, 31. Mai 2013
Neulich im Radio...
Vor ein paar Tagen saß ich mal wieder in meinem Auto, zappte zwischen den Radiosendern mit den immergleichen Songs, den gleichen Werbeslogans und den gleichen abgedroschenen Witzen hin und her, einfach auf der Suche. Ich kann nicht einmal sagen, was genau ich suchte. Aber ich wusste, dass ich wohl nicht fündig werden würde. Ich meine, warum müssen diese Sender immer wieder sagen, was sie spielen? Das hört man doch. Und warum sagen sie mir, warum ich den Sender anhabe? Außerdem: ihr liegt falsch, es war Zufall, nicht „Der Beste Musikmix“.

Ich startete den Sendersuchlauf, immer noch ohne große Hoffnung, ich wollte das Radio schon ausschalten und einfach den Motorgeräuschen und dem Wind um das Auto herum lauschen, einfach mal diese ständige mediale Dauerbeschallung abschalten. Doch dann wurde es doch noch spannend. Auf irgendeinem Sender lief ein Report über einen medizinischen Kongress. Erst hörte ich nicht richtig hin, aber ich hatte bemerkt, dass es um psychische Erkrankungen ging. Ich drehte etwas lauter. Es ging, so wie ich das verstand, um die Verabschiedung einer Art „Diagnostikbibel“, so eine Art Katalog, der festlegt, was wann eine Störung ist. Geht wohl vor allem darum, dass die Krankenkassen wissen, was sie abrechnen können. Immer geht es ums Geld…

Ich wurde neugierig und hörte mir tatsächlich den ganzen Report an, zu Hause las ich noch ein bisschen zu diesem Thema. Also ich habe von solchen Sachen ja wirklich keine Ahnung, aber ich muss zugeben, dass mich das Ganze ja schon ein bisschen verwirrt. Da setzen sich Wissenschaftler hin und diskutieren jahrelang, wie sie Krankheiten definieren. Was mir zu denken gegeben hat ist, dass die Grenze für Diagnosen wohl heruntergesetzt wurde. Es ist scheinbar schneller möglich, eine Depression zu bekommen. Zwei Wochen Trauer, und peng, die Glücklichmachpillen sind in Reichweite. Geht sowas wirklich so schnell? Denn ganz ehrlich: dann sollte ich mir vielleicht Sorgen machen. Auch irgendwie seltsam finde ich, dass Melancholie wohl nicht mehr eigenständig betrachtet wird, sondern gleich eine Depression ist. Ok, ich schreibe zwar auch Geschichten, aber wäre ich ein ernsthafter Autor, vielleicht noch von Gedichten, ein Songschreiber… Wie viele poetische Texte haben die Melancholie als Thema, und wie schön sind diese manchmal. Und jetzt? Das ganze potenziell romantische (womit ich nicht sagen will, dass es für den Betroffenen ein schönes Gefühl sein muss) an der Melancholie, weggewischt und durch Depression ersetzt. Bilder von Casper David Friedrich oder Albrecht Dürer sind nicht mehr „melancholisch“, sie sind „depressiv“, und eines der bekanntesten Gedichte von Gottfried Keller können wir gleich in „Depression“ umbenennen. Komische Vorstellung.

Ist Ihnen zu abstrakt, zu alt? Ich stelle mir vor, wie sich die Autoren von „The Big Bang Theory“ geärgert haben müssen. Warum? Der eigentliche Star der Serie wird immer mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht, nicht zuletzt deshalb wird er als verquer, aber sympathisch vertrottelt wahrgenommen. Und was machen diese Wissenschaftler? Streichen das Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose. Au weia, das Konzept der Serie wackelt.

Aber Spaß beiseite, was mich bei solchen Leitfäden ja immer am meisten interessiert ist die Frage, wie sowas definiert wird. Man geht ja davon aus, dass jemand sich nicht verhält wie es erwartet wird, man weicht von einer Norm ab, also hat man eine Störung. Nur mit welchem Recht wird diese Norm festgelegt? Und warum muss sich jeder an diese Norm halten? Ausgenommen sind wohl nur Künstler. Das vielleicht beste Album der Beatles, „Sgt. Pepper“, ist doch deshalb so gut, weil es mit den Konventionen bricht. „Pulp Fiction“ ist Kult, weil der Film nicht normal ist. Was auf der einen Seite als Störung aufgefasst wird, ist auf der anderen eine kulturelle Bereicherung. Oder wo ist da mein Denkfehler?

Stellen sie sich einfach mal Folgendes vor. Sie waren gerade einkaufen und sind zu Fuß auf dem Heimweg. Ihnen laufen genau drei Personen über den Weg.

Der erste sieht ungepflegt, unrasiert und zerstreut aus. Er sieht nur auf den Boden und murmelt für sie völlig unverständliches Zeug, fasst sich immer wieder ins Gesicht, reibt sich die Augen.

Die zweite Person, eine junge Frau, hüpft fast durch die Gegend und summt laut vor sich hin, gelegentlich singt sie kurze Zeilen, und immerzu grinst sie übers ganze Gesicht.

Person Nummer drei ist ein älterer Herr, der langsam rückwärts geht, das Gesicht halb verkrampft, halb schmerzverzerrt.

Sie kommen zu Hause an, schütteln über die komischen Leute auf der Straße den Kopf, packen ihre Einkäufe aus und machen RTL an, Supertalent kommt.

Ok, der letzte Teil war böse, Verzeihung. Aber was würden sie über diese drei Personen denken? Verhalten sie sich nach der Norm, oder haben sie eine Störung? Möglichkeit eins ist jetzt, sich zu fragen, ob man selber so etwas machen würde. Sie denken kurz drüber nach, kommen zum Schluss „Nein“, also Störung. Aber Moment, anders gefragt: Warum machen diese Leute das? Ob das wichtig ist, nun ja, wie wärs damit:

Person eins ist Student, er lernt seit Wochen für eine wichtige Prüfung, von der seine Zukunft abhängt, er muss wahnsinnig viele Fremdsprachige Begriffe lernen, Latein, Altgriechisch. Er ist nur noch damit beschäftigt, alles Wissen in seinen Kopf zu prügeln und vergisst alles andere, selbst das Schlafen.

Person zwei ist vor kurzen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Durch einen Sehnenriss konnte sie ewig nicht richtig laufen, aber jetzt kann sie Tanzen!

Person drei hat seit längerer Zeit Probleme mit den Muskeln, Magnesiummangel und ständig Krämpfe. Er war gerade unterwegs, als es wieder losging. Aber zu Hause hat er mal etwas herausgefunden: durch die andere Belastung beim Rückwärtslaufen kommt er wenigstens voran. Er will nur nach Hause und sich ausruhen, er weiß, dass es dämlich aussehen mag, aber nur so kommt er nach Hause und er ist zu eitel, um nach Hilfe zu fragen.

Und, was sagen Sie, bleiben sie bei Ihrer Meinung? Es ist natürlich alles nur theoretisch, aber ich glaube es ist leicht zu urteilen. Aber es ist auch genauso leicht, zu fragen. Erklärt vielleicht vieles. Auch eine scheinbare Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm.


Ergänzung: In dem Report meinte ein „Experte“ (wieder so eine Definitionssache…), das Melancholie deshalb gestrichen wurde, weil man diesen Zustand wohl ziemlich gut mit Fakten belegen kann, während sich wohl alle anderen Diagnosen sich genauerer Klassifizierungen entziehen. Und das hätte wohl einfach doof ausgesehen: zig verschiedene Krankheiten, und eine ist nachweisbar. Ich habe davon wie gesagt keine Ahnung, kann da jemand was zu sagen? Würde mich ja mal interessieren…

Ergänzung 2: Burnout ist nicht annerkannt...??? Krass

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