Donnerstag, 2. Januar 2014
Schlaflos
psmerga, 02:04h
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann die letzte Nacht war, in der ich durchgeschlafen habe. Selbst das letzte Mal, dass ich mich hinlegte und einfach einschlief, ist lange vergessen. Dabei war das zu Bett gehen für mich einst wie ein kleines Ritual, das ich jede Nacht zelebrierte, angefangen bei der Beleuchtung durch die kleine Nachttischleute, in der kleine Spiegelplättchen aufstiegen und die Decke des Zimmers wie die Oberfläche eines Sees aufflackern ließen, den Lautsprechern um mein Bett, die leise Klänge von Bands mit wohlklingenden Namen wie „A Whisper in the Noise“ durch den Raum schwingen ließen und den schweren Vorhängen, die mein kleines Reich von der Außenwelt abschotteten und keinen unerwünschten Lichtstrahl hereinließen. Doch dieses Ritual wirkt wie ein Relikt aus alter Zeit und der Gedanke dran wirkt so fremd, als wäre es nie ein Teil meines Lebens gewesen. Die Lampe wirft ihr Licht heute an eine mit Plakaten überklebten Decke, die Lautsprecher sind lange abgebaut und die Vorhänge vor langer Zeit abgenommen. Ich habe die Welt hereingelassen, sie hat sich eingenistet, blieb und denkt nicht daran zu gehen. Mal leuchten hunderte Sterne vor meinem Fenster, wandern langsam und unaufhaltbar, immer weiter, bis sie sich meinen Blicken entziehen, in anderen Nächten schafft die Dunkelheit draußen es fast die kleinen roten Leuchten an den elektronischen Geräten, die mich umgeben, abzudunkeln, während sie sich ins Zimmer schleicht, und manchmal scheint es, als würde die Sonne versuchen, die Nacht in meinem Zimmer und meinen Gedanken zu erhellen, in dem sie dem Mond aufträgt, ihr Licht zu mir schicken und einen verschwommenen Glanz auszustrahlen. Aber selbst in diesen Momenten finde ich keine Ruhe, wälze mich in meine Kissen und Decken und nicht selten sehe ich durch mein Fenster die ersten zarten Lichtstrahlen eines neuen Tages, bevor ich die Chance hatte, den alten überhaupt abzuschließen.
Je mehr ich mir wünsche zu schlafen, so sehr ich ein wenig Ruhe ersehne um Kraft zu tanken, um morgens erholt die Augen zu öffnen, bereit der Welt entgegenzutreten, desto mehr verfalle ich meine Gedankenwelt. Zuerst dachte ich, es wäre der Krankenhausaufenthalt damals gewesen, mit dem alles begann, dieser lange Schlaf mit all diesen verworrenen, grausamen und verstörenden Träumen. Sei es der Traum, in dem Pfleger Drogen in meinem Körper schmuggelten, in der Klinik Partys feierten und rücksichtslos mit allen Patienten umgingen, oder der, in dem ich angeschossen wurde und blutend an eine Wand gelehnt lag, während jemand mir immer wieder sagte, es würde alles gut werden, sie kamen nie wieder, machen mir keine Angst. Ich glaube heute, der Auslöser kam später. Es ist nicht die Angst, dass die Träume wiederkehren, nicht die Befürchtung, wieder Monate zu schlafen, es ist die Suche nach Antworten, obwohl ich nicht einmal die Fragen weiß. Ich habe erfahren, wie verwundbar ich bin, und welche Auswirkungen es auf meine Umgebung hat, wieviel Leid ich verursacht habe, wieviel Leid ich in mir trage.
Es legte sich zuerst auf die Seele, es verdunkelt die Gedanken, schürte Schuldgefühle, Zweifel an allen Entscheidungen, egal ob sie schon getroffen waren oder ausstanden, begann sich langsam im Körper auszubreiten, im Herz, wo es Hoffnungen zerstörte, Freude auffraß und für Verbitterung, ein Abstumpfen sorgte, das nur eine Leere zurückließ. Schleichend legte es sich wie ein Filter auf die Augen, das Gehör, die Fingerspitzen, alle Sinne wurden feiner, sensibler und ich fing an die Welt anders zu erleben. Plötzlich war das Leid, das an vielen Stellen zu Tage trat, und sei es noch so klein und versteckt, wahrnehmbar. In den Augen der Mitmenschen erkannte ich ihre Wunden, im Lächeln die Unsicherheit, im Sprechen die Angst, und was als Kampf gegen die eigenen Dämonen begann transformiert. Die Erkenntnis, dass ich nicht allein war, das Leiden dazugehört, zu jedem, zu allem, zum Leben setzte sich fest. Ich musste nicht in Krankenhäuser gehen, um es zu sehen, es lauerte, überall, jederzeit umgab es mich, Krankheit, Verlust, Einsamkeit. Und dann, ohne Vorwarnung, passiert es, beinahe unmerklich nahmen die geschärften Sinne etwas auf, hier ein Sonnenstrahl, der durch Wolken brach und wärmte, dort ein Duft, der vertraute Bilder aus der Vergangenheit herauf beschwor, eine Melodie, die längst vergessen schien, ein alter Mann, der von einer Krankenschwester geleitet unter großer Anstrengung seinen Rollator über einen Gang schob, welche ihn aber nicht davon abhielt mit einem Lächeln seiner Begleiterin Gothe zu rezitieren. Ich erkannte, das Leid nur ein Teil des Lebens war, aber dass es so viel mehr gab. Es passierte schleichend, aber ich nahm die Schönheit in kleinen Dingen, einen Schmerz der nachließ, ein Wort das tröstete und einen Moment der Ruhe wahr, bevor ich schließlich merkte, wie von allen Dingen ein besonderer Glanz ausging, wie in der Luft die verschiedensten Gerüche vermischt waren, wie es überall Hoffnung, Freude und Liebe zu finden gab.
Ich glaube, deshalb schlafe ich so schlecht, weil es so viel da draußen gibt, so viele Details, so viel Freude, so viel Leben. Weil ich denke, dass jeder Moment wichtig ist, jeder Sekunde ein Zauber innewohnt, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Je mehr ich mir wünsche zu schlafen, so sehr ich ein wenig Ruhe ersehne um Kraft zu tanken, um morgens erholt die Augen zu öffnen, bereit der Welt entgegenzutreten, desto mehr verfalle ich meine Gedankenwelt. Zuerst dachte ich, es wäre der Krankenhausaufenthalt damals gewesen, mit dem alles begann, dieser lange Schlaf mit all diesen verworrenen, grausamen und verstörenden Träumen. Sei es der Traum, in dem Pfleger Drogen in meinem Körper schmuggelten, in der Klinik Partys feierten und rücksichtslos mit allen Patienten umgingen, oder der, in dem ich angeschossen wurde und blutend an eine Wand gelehnt lag, während jemand mir immer wieder sagte, es würde alles gut werden, sie kamen nie wieder, machen mir keine Angst. Ich glaube heute, der Auslöser kam später. Es ist nicht die Angst, dass die Träume wiederkehren, nicht die Befürchtung, wieder Monate zu schlafen, es ist die Suche nach Antworten, obwohl ich nicht einmal die Fragen weiß. Ich habe erfahren, wie verwundbar ich bin, und welche Auswirkungen es auf meine Umgebung hat, wieviel Leid ich verursacht habe, wieviel Leid ich in mir trage.
Es legte sich zuerst auf die Seele, es verdunkelt die Gedanken, schürte Schuldgefühle, Zweifel an allen Entscheidungen, egal ob sie schon getroffen waren oder ausstanden, begann sich langsam im Körper auszubreiten, im Herz, wo es Hoffnungen zerstörte, Freude auffraß und für Verbitterung, ein Abstumpfen sorgte, das nur eine Leere zurückließ. Schleichend legte es sich wie ein Filter auf die Augen, das Gehör, die Fingerspitzen, alle Sinne wurden feiner, sensibler und ich fing an die Welt anders zu erleben. Plötzlich war das Leid, das an vielen Stellen zu Tage trat, und sei es noch so klein und versteckt, wahrnehmbar. In den Augen der Mitmenschen erkannte ich ihre Wunden, im Lächeln die Unsicherheit, im Sprechen die Angst, und was als Kampf gegen die eigenen Dämonen begann transformiert. Die Erkenntnis, dass ich nicht allein war, das Leiden dazugehört, zu jedem, zu allem, zum Leben setzte sich fest. Ich musste nicht in Krankenhäuser gehen, um es zu sehen, es lauerte, überall, jederzeit umgab es mich, Krankheit, Verlust, Einsamkeit. Und dann, ohne Vorwarnung, passiert es, beinahe unmerklich nahmen die geschärften Sinne etwas auf, hier ein Sonnenstrahl, der durch Wolken brach und wärmte, dort ein Duft, der vertraute Bilder aus der Vergangenheit herauf beschwor, eine Melodie, die längst vergessen schien, ein alter Mann, der von einer Krankenschwester geleitet unter großer Anstrengung seinen Rollator über einen Gang schob, welche ihn aber nicht davon abhielt mit einem Lächeln seiner Begleiterin Gothe zu rezitieren. Ich erkannte, das Leid nur ein Teil des Lebens war, aber dass es so viel mehr gab. Es passierte schleichend, aber ich nahm die Schönheit in kleinen Dingen, einen Schmerz der nachließ, ein Wort das tröstete und einen Moment der Ruhe wahr, bevor ich schließlich merkte, wie von allen Dingen ein besonderer Glanz ausging, wie in der Luft die verschiedensten Gerüche vermischt waren, wie es überall Hoffnung, Freude und Liebe zu finden gab.
Ich glaube, deshalb schlafe ich so schlecht, weil es so viel da draußen gibt, so viele Details, so viel Freude, so viel Leben. Weil ich denke, dass jeder Moment wichtig ist, jeder Sekunde ein Zauber innewohnt, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 31. Mai 2013
Neulich im Radio...
psmerga, 23:33h
Vor ein paar Tagen saß ich mal wieder in meinem Auto, zappte zwischen den Radiosendern mit den immergleichen Songs, den gleichen Werbeslogans und den gleichen abgedroschenen Witzen hin und her, einfach auf der Suche. Ich kann nicht einmal sagen, was genau ich suchte. Aber ich wusste, dass ich wohl nicht fündig werden würde. Ich meine, warum müssen diese Sender immer wieder sagen, was sie spielen? Das hört man doch. Und warum sagen sie mir, warum ich den Sender anhabe? Außerdem: ihr liegt falsch, es war Zufall, nicht „Der Beste Musikmix“.
Ich startete den Sendersuchlauf, immer noch ohne große Hoffnung, ich wollte das Radio schon ausschalten und einfach den Motorgeräuschen und dem Wind um das Auto herum lauschen, einfach mal diese ständige mediale Dauerbeschallung abschalten. Doch dann wurde es doch noch spannend. Auf irgendeinem Sender lief ein Report über einen medizinischen Kongress. Erst hörte ich nicht richtig hin, aber ich hatte bemerkt, dass es um psychische Erkrankungen ging. Ich drehte etwas lauter. Es ging, so wie ich das verstand, um die Verabschiedung einer Art „Diagnostikbibel“, so eine Art Katalog, der festlegt, was wann eine Störung ist. Geht wohl vor allem darum, dass die Krankenkassen wissen, was sie abrechnen können. Immer geht es ums Geld…
Ich wurde neugierig und hörte mir tatsächlich den ganzen Report an, zu Hause las ich noch ein bisschen zu diesem Thema. Also ich habe von solchen Sachen ja wirklich keine Ahnung, aber ich muss zugeben, dass mich das Ganze ja schon ein bisschen verwirrt. Da setzen sich Wissenschaftler hin und diskutieren jahrelang, wie sie Krankheiten definieren. Was mir zu denken gegeben hat ist, dass die Grenze für Diagnosen wohl heruntergesetzt wurde. Es ist scheinbar schneller möglich, eine Depression zu bekommen. Zwei Wochen Trauer, und peng, die Glücklichmachpillen sind in Reichweite. Geht sowas wirklich so schnell? Denn ganz ehrlich: dann sollte ich mir vielleicht Sorgen machen. Auch irgendwie seltsam finde ich, dass Melancholie wohl nicht mehr eigenständig betrachtet wird, sondern gleich eine Depression ist. Ok, ich schreibe zwar auch Geschichten, aber wäre ich ein ernsthafter Autor, vielleicht noch von Gedichten, ein Songschreiber… Wie viele poetische Texte haben die Melancholie als Thema, und wie schön sind diese manchmal. Und jetzt? Das ganze potenziell romantische (womit ich nicht sagen will, dass es für den Betroffenen ein schönes Gefühl sein muss) an der Melancholie, weggewischt und durch Depression ersetzt. Bilder von Casper David Friedrich oder Albrecht Dürer sind nicht mehr „melancholisch“, sie sind „depressiv“, und eines der bekanntesten Gedichte von Gottfried Keller können wir gleich in „Depression“ umbenennen. Komische Vorstellung.
Ist Ihnen zu abstrakt, zu alt? Ich stelle mir vor, wie sich die Autoren von „The Big Bang Theory“ geärgert haben müssen. Warum? Der eigentliche Star der Serie wird immer mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht, nicht zuletzt deshalb wird er als verquer, aber sympathisch vertrottelt wahrgenommen. Und was machen diese Wissenschaftler? Streichen das Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose. Au weia, das Konzept der Serie wackelt.
Aber Spaß beiseite, was mich bei solchen Leitfäden ja immer am meisten interessiert ist die Frage, wie sowas definiert wird. Man geht ja davon aus, dass jemand sich nicht verhält wie es erwartet wird, man weicht von einer Norm ab, also hat man eine Störung. Nur mit welchem Recht wird diese Norm festgelegt? Und warum muss sich jeder an diese Norm halten? Ausgenommen sind wohl nur Künstler. Das vielleicht beste Album der Beatles, „Sgt. Pepper“, ist doch deshalb so gut, weil es mit den Konventionen bricht. „Pulp Fiction“ ist Kult, weil der Film nicht normal ist. Was auf der einen Seite als Störung aufgefasst wird, ist auf der anderen eine kulturelle Bereicherung. Oder wo ist da mein Denkfehler?
Stellen sie sich einfach mal Folgendes vor. Sie waren gerade einkaufen und sind zu Fuß auf dem Heimweg. Ihnen laufen genau drei Personen über den Weg.
Der erste sieht ungepflegt, unrasiert und zerstreut aus. Er sieht nur auf den Boden und murmelt für sie völlig unverständliches Zeug, fasst sich immer wieder ins Gesicht, reibt sich die Augen.
Die zweite Person, eine junge Frau, hüpft fast durch die Gegend und summt laut vor sich hin, gelegentlich singt sie kurze Zeilen, und immerzu grinst sie übers ganze Gesicht.
Person Nummer drei ist ein älterer Herr, der langsam rückwärts geht, das Gesicht halb verkrampft, halb schmerzverzerrt.
Sie kommen zu Hause an, schütteln über die komischen Leute auf der Straße den Kopf, packen ihre Einkäufe aus und machen RTL an, Supertalent kommt.
Ok, der letzte Teil war böse, Verzeihung. Aber was würden sie über diese drei Personen denken? Verhalten sie sich nach der Norm, oder haben sie eine Störung? Möglichkeit eins ist jetzt, sich zu fragen, ob man selber so etwas machen würde. Sie denken kurz drüber nach, kommen zum Schluss „Nein“, also Störung. Aber Moment, anders gefragt: Warum machen diese Leute das? Ob das wichtig ist, nun ja, wie wärs damit:
Person eins ist Student, er lernt seit Wochen für eine wichtige Prüfung, von der seine Zukunft abhängt, er muss wahnsinnig viele Fremdsprachige Begriffe lernen, Latein, Altgriechisch. Er ist nur noch damit beschäftigt, alles Wissen in seinen Kopf zu prügeln und vergisst alles andere, selbst das Schlafen.
Person zwei ist vor kurzen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Durch einen Sehnenriss konnte sie ewig nicht richtig laufen, aber jetzt kann sie Tanzen!
Person drei hat seit längerer Zeit Probleme mit den Muskeln, Magnesiummangel und ständig Krämpfe. Er war gerade unterwegs, als es wieder losging. Aber zu Hause hat er mal etwas herausgefunden: durch die andere Belastung beim Rückwärtslaufen kommt er wenigstens voran. Er will nur nach Hause und sich ausruhen, er weiß, dass es dämlich aussehen mag, aber nur so kommt er nach Hause und er ist zu eitel, um nach Hilfe zu fragen.
Und, was sagen Sie, bleiben sie bei Ihrer Meinung? Es ist natürlich alles nur theoretisch, aber ich glaube es ist leicht zu urteilen. Aber es ist auch genauso leicht, zu fragen. Erklärt vielleicht vieles. Auch eine scheinbare Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm.
Ergänzung: In dem Report meinte ein „Experte“ (wieder so eine Definitionssache…), das Melancholie deshalb gestrichen wurde, weil man diesen Zustand wohl ziemlich gut mit Fakten belegen kann, während sich wohl alle anderen Diagnosen sich genauerer Klassifizierungen entziehen. Und das hätte wohl einfach doof ausgesehen: zig verschiedene Krankheiten, und eine ist nachweisbar. Ich habe davon wie gesagt keine Ahnung, kann da jemand was zu sagen? Würde mich ja mal interessieren…
Ergänzung 2: Burnout ist nicht annerkannt...??? Krass
Ich startete den Sendersuchlauf, immer noch ohne große Hoffnung, ich wollte das Radio schon ausschalten und einfach den Motorgeräuschen und dem Wind um das Auto herum lauschen, einfach mal diese ständige mediale Dauerbeschallung abschalten. Doch dann wurde es doch noch spannend. Auf irgendeinem Sender lief ein Report über einen medizinischen Kongress. Erst hörte ich nicht richtig hin, aber ich hatte bemerkt, dass es um psychische Erkrankungen ging. Ich drehte etwas lauter. Es ging, so wie ich das verstand, um die Verabschiedung einer Art „Diagnostikbibel“, so eine Art Katalog, der festlegt, was wann eine Störung ist. Geht wohl vor allem darum, dass die Krankenkassen wissen, was sie abrechnen können. Immer geht es ums Geld…
Ich wurde neugierig und hörte mir tatsächlich den ganzen Report an, zu Hause las ich noch ein bisschen zu diesem Thema. Also ich habe von solchen Sachen ja wirklich keine Ahnung, aber ich muss zugeben, dass mich das Ganze ja schon ein bisschen verwirrt. Da setzen sich Wissenschaftler hin und diskutieren jahrelang, wie sie Krankheiten definieren. Was mir zu denken gegeben hat ist, dass die Grenze für Diagnosen wohl heruntergesetzt wurde. Es ist scheinbar schneller möglich, eine Depression zu bekommen. Zwei Wochen Trauer, und peng, die Glücklichmachpillen sind in Reichweite. Geht sowas wirklich so schnell? Denn ganz ehrlich: dann sollte ich mir vielleicht Sorgen machen. Auch irgendwie seltsam finde ich, dass Melancholie wohl nicht mehr eigenständig betrachtet wird, sondern gleich eine Depression ist. Ok, ich schreibe zwar auch Geschichten, aber wäre ich ein ernsthafter Autor, vielleicht noch von Gedichten, ein Songschreiber… Wie viele poetische Texte haben die Melancholie als Thema, und wie schön sind diese manchmal. Und jetzt? Das ganze potenziell romantische (womit ich nicht sagen will, dass es für den Betroffenen ein schönes Gefühl sein muss) an der Melancholie, weggewischt und durch Depression ersetzt. Bilder von Casper David Friedrich oder Albrecht Dürer sind nicht mehr „melancholisch“, sie sind „depressiv“, und eines der bekanntesten Gedichte von Gottfried Keller können wir gleich in „Depression“ umbenennen. Komische Vorstellung.
Ist Ihnen zu abstrakt, zu alt? Ich stelle mir vor, wie sich die Autoren von „The Big Bang Theory“ geärgert haben müssen. Warum? Der eigentliche Star der Serie wird immer mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht, nicht zuletzt deshalb wird er als verquer, aber sympathisch vertrottelt wahrgenommen. Und was machen diese Wissenschaftler? Streichen das Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose. Au weia, das Konzept der Serie wackelt.
Aber Spaß beiseite, was mich bei solchen Leitfäden ja immer am meisten interessiert ist die Frage, wie sowas definiert wird. Man geht ja davon aus, dass jemand sich nicht verhält wie es erwartet wird, man weicht von einer Norm ab, also hat man eine Störung. Nur mit welchem Recht wird diese Norm festgelegt? Und warum muss sich jeder an diese Norm halten? Ausgenommen sind wohl nur Künstler. Das vielleicht beste Album der Beatles, „Sgt. Pepper“, ist doch deshalb so gut, weil es mit den Konventionen bricht. „Pulp Fiction“ ist Kult, weil der Film nicht normal ist. Was auf der einen Seite als Störung aufgefasst wird, ist auf der anderen eine kulturelle Bereicherung. Oder wo ist da mein Denkfehler?
Stellen sie sich einfach mal Folgendes vor. Sie waren gerade einkaufen und sind zu Fuß auf dem Heimweg. Ihnen laufen genau drei Personen über den Weg.
Der erste sieht ungepflegt, unrasiert und zerstreut aus. Er sieht nur auf den Boden und murmelt für sie völlig unverständliches Zeug, fasst sich immer wieder ins Gesicht, reibt sich die Augen.
Die zweite Person, eine junge Frau, hüpft fast durch die Gegend und summt laut vor sich hin, gelegentlich singt sie kurze Zeilen, und immerzu grinst sie übers ganze Gesicht.
Person Nummer drei ist ein älterer Herr, der langsam rückwärts geht, das Gesicht halb verkrampft, halb schmerzverzerrt.
Sie kommen zu Hause an, schütteln über die komischen Leute auf der Straße den Kopf, packen ihre Einkäufe aus und machen RTL an, Supertalent kommt.
Ok, der letzte Teil war böse, Verzeihung. Aber was würden sie über diese drei Personen denken? Verhalten sie sich nach der Norm, oder haben sie eine Störung? Möglichkeit eins ist jetzt, sich zu fragen, ob man selber so etwas machen würde. Sie denken kurz drüber nach, kommen zum Schluss „Nein“, also Störung. Aber Moment, anders gefragt: Warum machen diese Leute das? Ob das wichtig ist, nun ja, wie wärs damit:
Person eins ist Student, er lernt seit Wochen für eine wichtige Prüfung, von der seine Zukunft abhängt, er muss wahnsinnig viele Fremdsprachige Begriffe lernen, Latein, Altgriechisch. Er ist nur noch damit beschäftigt, alles Wissen in seinen Kopf zu prügeln und vergisst alles andere, selbst das Schlafen.
Person zwei ist vor kurzen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Durch einen Sehnenriss konnte sie ewig nicht richtig laufen, aber jetzt kann sie Tanzen!
Person drei hat seit längerer Zeit Probleme mit den Muskeln, Magnesiummangel und ständig Krämpfe. Er war gerade unterwegs, als es wieder losging. Aber zu Hause hat er mal etwas herausgefunden: durch die andere Belastung beim Rückwärtslaufen kommt er wenigstens voran. Er will nur nach Hause und sich ausruhen, er weiß, dass es dämlich aussehen mag, aber nur so kommt er nach Hause und er ist zu eitel, um nach Hilfe zu fragen.
Und, was sagen Sie, bleiben sie bei Ihrer Meinung? Es ist natürlich alles nur theoretisch, aber ich glaube es ist leicht zu urteilen. Aber es ist auch genauso leicht, zu fragen. Erklärt vielleicht vieles. Auch eine scheinbare Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm.
Ergänzung: In dem Report meinte ein „Experte“ (wieder so eine Definitionssache…), das Melancholie deshalb gestrichen wurde, weil man diesen Zustand wohl ziemlich gut mit Fakten belegen kann, während sich wohl alle anderen Diagnosen sich genauerer Klassifizierungen entziehen. Und das hätte wohl einfach doof ausgesehen: zig verschiedene Krankheiten, und eine ist nachweisbar. Ich habe davon wie gesagt keine Ahnung, kann da jemand was zu sagen? Würde mich ja mal interessieren…
Ergänzung 2: Burnout ist nicht annerkannt...??? Krass
... link (6 Kommentare) ... comment