Samstag, 14. Dezember 2013
Krankenhausgedanken
Ich versuche mir immer wieder einzureden, dass ich vor nichts Angst habe. Körperliche Schmerzen sind nichts, was ich angenehm finde, aber ich habe sie so oft erfahren, dass sie mir keine Angst machen. So ist es mit den meisten Dingen. Ich habe sie alle in einer oder anderer Form erfahren. Sie waren teilweise niederschmetternd, zerstörend, zersetzend, aber ich habe sie überstanden, es machte mich härter. Vielleicht stumpfte es mich auch ab. Und jetzt gibt es nichts, wovor ich noch Angst haben müsste. Zumindest rede ich mir das ein.

Denn es gibt eine Sache, die mir panische Angst macht. Seit Jahren ist diese Angst wie ein Stachel in meinem Kopf. Die meiste Zeit schaffe ich es, ihn klein zu halten, wie einen Splitter. Doch dann gibt es Momente in denen er groß und größer wird, bis er schließlich wie ein Speer ist, der sich durch meinen ganzen Körper bohrt. Die Angst vor dem Tod.

Ich habe nie an höhere Mächte geglaubt. Ich habe mir die Religionen angeschaut, Philosophien studiert, um zu lernen, meine Angst zu bezwingen. Vergeblich. Die Vorstellung einer Ewigkeit, ohne das ich darin existiere verursacht Panik in mir, schnürt mir die Luft ab und lässt mich unruhig und nervös aufschrecken, Tränen im Auge und Risse im Herzen. Dabei habe ich den Tod schon zwei Mal besiegt. Oder eher verschoben. Der Gedanke, dass alles, was ich tue, ein Geschenk, ein möglicherweise unglaublicher Zufall oder einfach Glück war, lastet auf mir. Ich will gerade deshalb mein Leben auskosten, weil es schon vorbei hätte sein können. Aber ich schaffe nicht einmal das.

Bei all den Dingen, die mir widerfahren sind, müsste ich vielleicht verzweifelt sein, lebensmüde, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Konfrontation mit dem Tod hat nur dazu geführt, dass ich mich noch mehr ans Leben klammere. Vielleicht ist die Erkenntnis nach all der Philosophie eine einfache. Camus sagte, dass Leben sei absurd und ohne höheren Sinn, deshalb wäre Selbstmord der logische Ausweg. Aber da das der Sieg des Absurden wäre bleibt nur eins: weitermachen!
Ich mache schon sehr lange weiter, und es wird immer absurder.

Es gibt diesen abgedroschenen Spruch, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Das ist Blödsinn. Das Leben schreibt nicht die besten, es schreibt alle Geschichten. Es sortiert nicht nach Größe, Bedeutung, Wirkung, Sinn oder Logik. Es schreibt einfach. Jeden Moment, eine riesige Geschichte, mit Milliarden Hauptdarstellern, nur, dass wir immer nur den Teil sehen, der uns betrifft. Mal sind wir im Mittelpunkt und mal meilenweit davon entfernt, aber als Teil der Geschichte gehören wir dazu, ohne feste Rolle, als improvisierende Schauspieler werden wir vom Leben getrieben, umhergeschleudert, an fremde Orte, zu fremden Menschen, durch Stürme und Unwegsamkeiten geschickt, immer auf der Suche, nach Zielen, die uns das Leben ganz nebenbei in die Regieanweisungen schreibt, die wir in uns aufnehmen, und ohne es zu bemerken, jagen wir dahin, im Glauben, die volle Kontrolle über unser Schicksal zu haben, während das Leben sich schon ganz andere Wendungen für uns ausdenkt.

Vielleicht ist der Tod deshalb etwas, dass mir so große Angst macht. Auch wenn wir durchs Leben getrieben werden, ohne es so wahrzunehmen, die Kontrolle über das Ende liegt nicht bei uns. Wir sind Spielbälle, die umhergeschleudert werden und irgendwann einfach verbraucht sind. Und dieser Gedanke ist hart. Der härteste. Jedenfalls dachte ich das immer.

Es gab nie etwas, das ich als schlimmer empfunden habe, als diese Panik, im Gedanken an die Ewigkeit. Doch ich irrte mich, ich habe es gespürt, vor kurzer Zeit. Diese Angst, mit all ihren Folgen, ihrer Unruhe, dem Wunsch, den Gedanken weit in sich zu begraben, im Wissen, ihn nie ganz loszuwerden. Doch es war nicht der Tod, der mich in Panik versetzte, es war etwas anderes. Und es lässt mich glauben, dass vielleicht alles absurd, aber nicht sinnlos ist. Dass es etwas gibt, für das es sich lohnt, zu kämpfen. Ich glaube das Leben hat eine Menge Spaß daran, uns unsere Fehler aufzuzeigen, uns damit zu verfolgen, um uns zu testen, ob wir sie erkennen, und ob wir reagieren. Nehmen wir sie hin, verzweifeln wir, geben wir auf, dann wäre das wohl der Sieg des Absurden, dass sich uns in den Weg stellt um uns zu verhöhnen, uns immer wieder an die schlimmsten Augenblicke zurückbringt. Aber sollte das Stimmen, gibt es nur eine Lösung. Dem Absurden den Kampf anzusagen, sich ihm zu stellen, um es zu überwinden. Um weiterzumachen, um die Angst zu besiegen.

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Samstag, 11. Mai 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 6
Draußen fielen die ersten Schneeflocken des Jahres. Dabei war es gerade mal Ende November. Der Winter war dieses Jahr ziemlich früh dran, selbst die Bäume waren fast schon alle kahl, das Laub längst aus den Straßen aufgekehrt und die typische Weihnachtsdeko, Sterne, Tannenbäume und diese kleinen Holzhütten waren überall zu sehen. Der kalte Wind biss auf der Haut des alten Mannes, als er von seinem kleinen Einkauf zurückkam. Ein bisschen Brot, Milch, zwei Scheiben Wurst und ein leuchtend roter Apfel. Er liebte es kurz bevor die Geschäfte schlossen nochmal durch die Läden zu wandern. Die ganze Hektik war dann verschwunden, die Menschen irgendwie entspannter.

Als er ausgekühlt in seiner kleinen Wohnung ankam kochte er sich erst einmal einen Tee und legte eine Platte auf, um die Stille fortzujagen. Er setzte sich mit dem Tee auf sein Sofa und beobachte das Schauspiel vor seinem Fenster. Der Wind ließ die Flocken immer wieder aufsteigen, wirbelte sie durcheinander und das Ganze sah aus wie ein wunderschöner Tanz, einen, den er so lange nicht mehr gesehen hatte, aber irgendwie kroch eine Erinnerung in ihm hoch. Sein Blick wanderte auf ein altes Fotoalbum, eines von vielen. Aber dieses eine hatte seine ganze Aufmerksamkeit. Er ging zu seinem Regal und als er das Album in die Hand nahm bemerkte er zuerst die Staubsicht, die sich über die Jahre angesammelt hatte. Scheinbar hatte er es sehr lange nicht angesehen, aber irgendetwas in ihm sagte, dass er es jetzt tun sollte. Die Bilder weckten alte Erinnerungen, beinahe vergessen. Bilder aus der Zeit seiner Ausbildung, seines Studiums. Und dann wusste er, warum er dieses Album gegriffen hatte.

Ein altes Foto von einem verregneten Morgen. Eine Frau, die im Regen tanzt, mit einem unwiderstehlichen Lächeln, und im Hintergrund erzeugten die ersten Sonnenstrahlen des Tages einen kleinen Regenbogen. Er erinnerte sich, die beiden hatten den Tag zusammen verbracht, waren die ganze Nacht durch eine fremde Stadt gewandert und als die Sonne aufging fing es an zu regnen. Und sie begann zu tanzen. Einfach so, barfuß, in ihrem Sommerkleid. Er wollte mittanzen, aber er fühlte sich zu ungeschickt dafür. Stattdessen nahm er die Kamera, machte dieses eine Foto. Es war perfekt.

Das Ganze war inzwischen bestimmt über 30 Jahre her. Und ungefähr so lange hatte er sie auch nicht mehr gesehen. Überhaupt hatte er viele Menschen aus seiner Jugend seit Jahren nicht gesehen. Gute Freunde, Kollegen, Freundinnen. Oft hatten sich die Wege getrennt, aus allen möglichen und unmöglichen Gründen. Mal war es die Distanz, mal andere Vorstellungen, andere Ziele. Und manchmal war es einfach das Leben, das andere Pläne gemacht hatte. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie er immer wieder diese Sätze hörte: „Du findest auch noch die Richtige, du bist doch jung. Du bist was Besonderes, das wird schon jemand merken.“ All dieses Zeug, das Freunde mit Beziehungen Freunden ohne Beziehungen erzählen. Aber selbst diese Sätze waren lange her. Scheinbar hatten seine Freunde es aufgegeben. Manchmal schien es ihm, als würden sie Mitleid mit ihm haben, weil er alleine war. Vielleicht schämten sie sich auch, weil sie glaubten, Unrecht gehabt zu haben. Stattdessen sahen sie ihn häufig mit diesen mitleidigen Blicken an, diese „Es hat nicht so sein sollen“ Blicke, die der inneren Überzeugung geschuldet sind, dass der eigene Lebensentwurf mit Familie, kleinem Haus und Kombi ein Allgemeingut ist, und wer es nicht hat muss ja was falsch gemacht haben.

Aber er hatte nichts falsch gemacht. Er hatte geliebt, und er wurde geliebt. Er hatte sie erlebt, die Art von Liebe, die einem das Gefühl gibt unsterblich und unbesiegbar zu sein. Die Art von Liebe, die einen zerfetzt und zerstört. Die Art von Liebe, die Opfer verlangt, aber auch die bedingungslose Liebe, die ihm entgegengebracht wurde. All diese Klischees aus Filmen, aus Songs, aus Büchern, er kannte sie alle. War daran etwas falsch? Alle stellen immer diese eine Frage: „Wirst du mich auch morgen noch lieben?“ Er konnte nur darüber lächeln. Manchmal ist es viel komplizierter. Liebe garantiert keine Beziehung, davon war er überzeugt. Ihm war etwas anderes viel wichtiger. Wenn man jemanden liebt, dann muss man diesen Moment festhalten und konservieren. Man muss sich daran erinnern, wie sehr man die Person in einem bestimmten Moment geliebt hat. Denn selbst wenn das Leben dann andere Pläne hat, die Wege sich trennen, dann bleibt dieser Gedanke im Hinterkopf. Und wenn man sich dann nach Jahren wiedersieht, man hat sich komplett in andere Richtungen entwickelt, scheinbar hat man nichts mehr gemeinsam, dann ist da trotzdem dieses Wissen. Dass irgendwo in dieser scheinbar anderen Person irgendwo der Mensch ist, den man in einem bestimmten Moment von ganzem Herzen geliebt hat.

Er blätterte noch ein bisschen durch die alten Fotos, und irgendwie erschien es ihm seltsam. Zuerst hatte er da Gefühl, dass er all diese Menschen seit damals nicht gesehen hatte. Aber das stimmte nicht. Dieser Spruch, dass man sich immer zweimal im Leben sieht, vielleicht war das doch was dran. Manchmal liegen dazwischen nur Wochen, manchmal viele Jahre. Aber es war wirklich so: man sah sich zweimal. Mindestens. Er dachte darüber nach. Vielleicht waren Menschen wie Kometen, die scheinbar ziellos durchs All fliegen. Man kommt immer wieder an anderen vorbei, manchmal gibt es Zusammenstöße, manchmal fliegt man eine Weile zusammen und manchmal fliegt man so knapp an einem anderen vorbei, das man ins Trudeln gerät, dass man aus der Bahn geworfen wird. Manche sieht man danach nur in großer Distanz mal wieder, vielleicht nur ein einziges Mal. Aber es gibt auch diese besonderen Exemplare, die scheinbar dazu verurteilt sind sich in unregelmäßigen Abständen zu begegnen. Mal fliegen sie dichter aneinander vorbei, manchmal in größerer Distanz. Aber immer wird man angezogen und umhergeschleudert, nur um danach unkoordiniert weiterzufliegen, in dem Wissen, dass es irgendwann wieder genau dazu kommen wird. Er kannte so etwas sehr gut.

Die Nadel des Plattenspielers hob sich und es herrschte wieder Stille in der Wohnung. Er schlug das Album zu, mit einem Lächeln auf den Lippen. Er wusste, er flog vielleicht ziellos durchs All, aber er flog noch, und da draußen waren viele Kometen, die er kannte, und noch so viele mehr.

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Donnerstag, 2. Mai 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 5
Ich muss ja ganz ehrlich zugeben, dass mir meine Arbeit zwar sehr Spaß macht, aber irgendwie ist da immer so ein kleiner Beigeschmack. Ich meine, ich erzähle Geschichten, so weit, so normal, möchte man meinen. Doch eigentlich ist das ja nur die halbe Wahrheit. Ich schreibe sie auf, und so fehlt am Ende der direkte Draht, den man ja hat, wenn man ein Gespräch führt. Auf der einen Seite hat das ja auch Vorteile: potenziell kann ich mehr Menschen erreichen, und mein Ziel, andere zum Erzählen (oder auch Schreiben) zu bringen, wird so vielleicht tatsächlich erfüllt. Andererseits kann es aber auch so sein, dass es niemand liest, und alles für die Katz ist. Würde ich das alles tatsächlich jemandem erzählen, so wüsste ich zumindest, dass eine Person zuhört. Sie fragen sich sicherlich, warum mir das so zu denken gibt, ich werde versuchen, es etwas genauer zu erklären.

Geschichten leben am Ende davon, dass sie kommuniziert werden, und der direkteste Weg ist und bleibt das Erzählen von Angesicht zu Angesicht. Klarer Vorteil sind die Einsatzmöglichkeiten von Mimik und Gestik, ich kann dem gesagten viel mehr Wirkung einhauchen, im Idealfall sieht man dem Erzähler die Emotionen, die Begeisterung an, der Funke springt über, der Moment brennt sich ins Gedächtnis. Wenn man allerdings etwas liest wird die Sache schwerer. Ich muss als Leser bereit sein, meinen Kopf, meine Phantasie einzusetzen, der Schreiber gibt nur den Impuls, ob ich darauf eingehe kann er aber nach dem Aufschreiben nicht mehr beeinflussen. Dass Bücher trotzdem so erfolgreich sind zeigt ja, dass so etwas funktioniert. Aber nicht jeder nimmt noch Bücher in die Hand. Lesen hat vielleicht an Wert verloren. Aber das Paradoxe ist: obwohl der Wert meiner Meinung nach abnimmt, wird immer mehr gelesen, und immer weniger geredet. Glauben Sie nicht? Dann habe ich ein paar Fragen…

Wann haben sie heute das erste Mal ihre Mails gecheckt? Haben Sie doch bestimmt schon erledigt, oder etwa nicht? Vielleicht war ja was Spannendes dabei. Oder was Wichtiges. Unter Umständen war es auch nur der Hinweis, dass auf Ihrem Facebook Profil etwas passiert ist. Da waren Sie doch sicher auch schon, oder? Jemand hat Ihr Foto kommentiert. Eine knappe Zeile, dazu ein Link zu einem Video. Zwei Einladungen zu Veranstaltungen, eine Nachricht (Inhalt: „Was geht heut noch?????“) und drei Likes zu Ihrem gelinktem Gedicht. Dafür, dass Sie nur 7 Stunden nicht online waren doch recht gute Ausbeute. Sie antworten kurz auf die Nachricht („Nicht viel….“), schauen sich die ersten 15 Sekunden des Videos an (klicken danach auf „Gefällt mir“), und danach wird noch eine kurze Nachricht über Twitter versendet. Alles in allem waren sie mit lesen der Mails und dem Checken Ihres Profils 15, vielleicht 20 Minuten beschäftigt. Und alle Kommunikation in dieser Zeit war ein lapidares „Nicht viel….“.

Zugegeben, das Ganze sollte gerade sehr überspitzt sein, und ich wollte Sie keinesfalls angreifen. Aber kennen Sie solche Momente? Ich schon. Und manchmal verwirrt mich das nur noch. Ich meine, die Möglichkeiten zu kommunizieren sind heute unglaublich: wir können in Sekundenschnelle jeden beliebigen Ort der Welt kontaktieren, senden Signale ins All und zurück, quer über den Planeten. Und was senden wir? Smileys… Wir sind ständig erreichbar, immer bereit uns mitzuteilen und zuzuhören. Aber wir haben nichts mehr zu sagen. Denken Sie einfach mal zehn, oder 15 Jahre zurück. Facebook, Twitter, Skype, das gab es nicht. Nicht jeder hatte ein Handy, und an Smartphones war nicht zu denken. Kommunikation musste über das Telefon, Gespräche oder Briefe erfolgen. Wann haben sie das letzte Mal einem Freund oder einer Freundin einen Brief geschrieben? Auf Briefpapier? Da war nichts mit dem Versenden eines Links zu einem Gedicht, man musste das Abschreiben, in Schönschrift. Aber war doch toll, wenn man sowas bekommen hat. Allein dieses Kribbeln, wenn man ein paar Tage auf die Antwort warten musste. Ich will nicht sagen, dass das alles besser war, aber der Aufwand war höher, man überlegte genauer, was man wie mitteilt. Einen Brief abschicken, in dem nichts stehst war sinnlos. Heute kurze Nachrichten mit Nichtigkeiten zu verschicken ist ganz normal und durch die Technik bedingt. Twitter hat nur begrenzte Zeichen. Wenn du was sagen willst, dann mach es kurz! Der eigentliche Sinn von Kommunikation, Dialoge, Verständigung, Streitgespräche, wird immer mehr verwischt. Zumindest kommt es mir häufig so vor. Vielleicht bin ich auch ein Schwarzseher, aber jetzt mal im Ernst, was ist schöner: auf einer Party eine Telefonnummer zugesteckt bekommen und dann nervös anrufen, nicht wissend, ob die Person überhaupt rangeht, diese Aufregung spüren, überhaupt die Überwindung, die Nummer zu wählen. Oder ein kurzer Klick auf den „Freund/in hinzufügen“ Button bei Facebook, zwischen zwei Youtube Videos? Und was hat am Ende die höhere Wertigkeit?

Doch genug davon, ein geschriebener Monolog erfüllt wohl genau das, was ich anprangere, ich tappe in meine eigene Falle… Daher lenke ich einfach ab, ich wollte ja auch was erzählen.



Er saß seit zwei, vielleicht auch schon drei Stunden an seinem Schreibtisch. Vor ihm ein Block Papier, ein paar Kugelschreiber, Bleistifte. Als er sich gesetzt hatte war der Block nagelneu, jetzt fehlte die Hälfte der Seiten. Zerknüllt und verstreut lagen sie quer im Zimmer verteilt. Immer wieder versuchte er sich aufzuraffen, begann von vorne, brach ab. Dabei wusste er gar nicht, was er eigentlich schreiben wollte. Einen Brief? Eine Geschichte? Vielleicht ein Gedicht? Er wünschte, er hätte Talent für so etwas. Die richtigen Worte zu finden. Aber es klappte einfach nicht. Langsam verkrampfte sich seine Hand. Die Finger versteiften sich und die Muskeln verharrten gespannt, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Wenn es wenigstens wehtun würde. Er spürte nichts, nur, dass die Hand ihm nicht gehorchte. Er versuchte den Krampf zu lösen, massierte die Hand, und sah sich im Zimmer um. Es war mitten in der Nacht, nur die kleine Schreibtischlampe spendete etwas Licht. Er wusste, dass er schlafen sollte. Aber er konnte nicht. Selbst wenn er es versuchte, blieb er stundenlang wach. Er hatte genug davon. Genug vom Umherwälzen, genug vom auf die Uhr starren. Genug vom nichts tun. Aber irgendwie hatte er genau dieses Gefühl: nichts zu tun. Oder besser: nichts zu schaffen. Was war daran so schwer, irgendetwas aufzuschreiben? Wie machten Autoren das. Es gibt doch diese Leute, die ein Buch, ein Gedicht nach dem Anderen schreiben. Haben diese Leute jemals Schreibblockaden? Es muss ein tolles Gefühl sein, so etwas zu können. Einfach einen Stift nehmen und darauf los schreiben. So wie ein Musiker nur sein Instrument nimmt und drauflosspielt, ein Sportler nur sein Spielgerät oder was auch immer. Und er? Sport? Das ging nicht. Musik irgendwie auch nicht, und schreiben ganz offensichtlich auch nicht. Wieder kam in ihm dieser Zorn hoch. Auf sich selbst, auf den ganzen Mist, der passiert war. Warum war das alles passiert… Er wusste es nicht.

Langsam konnte er die Finger wieder bewegen, der Krampf löste sich er wollte noch einmal versuchen irgendwas Sinnvolles auf Papier zu bringen. Große Hoffnung hatte er allerdings nicht.


Changed

Woke up this morning
Yesterday seems so far away
I slept
Way to long
Didn’t know what happened
Can’t even remember when I went to bed

Saw your face, barely smiling
Hear your voice, whispering
“We changed”

I wanted to reach you
But I couldn’t move

I wanted to shout
But I couldn’t speak

I wanted to cry
But I couldn’t breath

Slowly you walk away from me
Leaving me alone
With just one thought
I… changed?

I’m lying in my bed
Sick
Weak
Tired
But I’ll stay awake

I slept
Much to long

I changed


Er blickte auf das Blatt, laß seine Worte. Er lächelte verbittert, zerknüllte es, warf es in die Ecke. Er wollte schreien. Doch er konnte nicht. Er wollte weglaufen, aber er konnte nicht. Er atmete tief durch. Immerhin…

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Mittwoch, 24. April 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 4
Hallo lieber Leser, liebe Leserin. Nach einer kleineren Pause ist es mal wieder so weit, ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Also, für den Fall, dass Sie das überhaupt interessiert. Ich werde mich jetzt nicht wieder rechtfertigen oder so, dass kennen Sie schon und wollen es sicher nicht hören. Sollten Sie sich allerdings fragen, warum ich es überhaupt tue, nun, ich habe meine Gründe. Vielleicht werde ich irgendwann einmal meine Geschichte erzählen. Wer weiß, aber heute ist nicht dieser Tag. Wobei ich gestehen muss, dass ich schon darüber nachgedacht habe. Aber ich denke, dafür ist es zu früh. Sollten Sie jetzt sagen, man sollte Dinge nicht immer ständig überdenken, auch mal einfach handeln, dann haben sie selbstverständlich Recht. Aber ich erkläre Ihnen, warum ich mich dagegen entschieden habe.

Vor kurzem sah ich einen Film, in dem jemand folgende Frage stellte: „Würdest du, wenn du die Möglichkeit hättest, irgendetwas in deiner Vergangenheit ändern?“ Unabhängig davon, wie die Antwort in diesem Film ausfiel möchte ich die Frage einmal weiterreichen. Würden Sie etwas ändern? Ich muss gestehen, ich dachte kurz darüber nach, dass die Vorstellung doch sehr verlockend ist. Einfach Dinge, die man falsch gemacht hat, anders angehen. Dinge, die man sagte eben nicht oder anders sagen, und in den Momenten, in denen man handeln oder reden sollte, aber nichts tat, einfach aktiv werden. Jeder hat doch in seiner Vergangenheit diese Momente, die einen verfolgen, Erinnerungen an Situationen, in denen man sich dämlich benommen hat, in denen man einer Person gegenüber nicht das sagte, was man eigentlich wollte. Und je mehr man darüber nachdenkt, umso mehr vermeintliche Fehleinschätzungen offenbaren sich. Also klar, her mit der Zeitmaschine, heute wird alles korrigiert, heute holen wir uns die perfekten Leben, die wir haben könnten, wenn dir nicht so unfähig gewesen wären.

Aber stimmt das wirklich? Wäre mein Leben ein besseres, wenn ich die Vergangenheit ändern würde? Ich meine, woher kommt denn der Wunsch, etwas zu „verbessern“? Eigentlich doch nur daher, dass ich weiß, welche Konsequenzen diese oder jene Entscheidung hatte. Hätte ich damals nicht so viel getrunken, hätte ich mich nicht lächerlich gemacht. Hätte ich andere Leistungskurse besucht, wäre mein Abi besser. Und wenn ich woanders studiert hätte…. Aber sehen Sie, wo das Problem ist. Das ist alles Konjunktiv! Ich habe keine Ahnung, was dann gewesen wäre, alles ist reine Spekulation. Wer sagt mir dann, dass ich wirklich falsch gehandelt habe? Ich meine, durch alles was ich tue, lerne ich. Natürlich entscheide ich Dinge mit 16 anders als mit 26. Aber ist das nicht vollkommen normal? Und wenn ich in jungen Jahren nicht so gehandelt hätte, würden mir die Erfahrungen fehlen, um es heute anders zu machen. Am Ende bin ich doch nur so, wie ich bin, weil ich diese Person selber geschaffen habe. Und ganz ehrlich: wenn man in den Spiegel gucken kann, und trotz der Kenntnis über alle kleineren und größeren Macken, physisch wie psychisch, mit sich im Reinen ist, erübrigt sich dann nicht die Frage, ob es anders besser gewesen wäre? Am Ende ist die Persönlichkeit etwas, dass man durch sein Leben, und wie man es führt, entwickelt. Alle Wünsche, alle Ziele, alles Wissen basiert auf Dingen, die ich getan, gesagt, gelesen, gehört, bewertet oder eben nicht getan habe. Genau deshalb entwickeln wir uns weiter, vom möglicherweise naivem, zurückgezogenen Teenager hin zum selbstbewussten Erwachsenen. Vielleicht bin ich in meiner Jugend ein Raufbold, aber später ein guter Redner. Aber ganz egal, wer ich bin oder was ich war: ich war vor allem immer ich. Und kleine oder große Unzulänglichkeiten gehören einfach dazu. Außerdem: ohne wäre es doch auch viel zu langweilig, oder?

Jedenfalls kam ich für mich zu dem Schluss, dass ich nichts ändern würde. Klar gab es echt miese Momente, aber sie haben mich geprägt und beeinflusst. Sie haben mich stark gemacht. Und es erfordert viel mehr Courage das Leben so zu nehmen, wie es ist, als ständig damit zu hadern. Warum gibt es denn solche Dinge wie Extremsportarten, Survival-Urlaub und dieses ganze Zeug? Weil man ständig auf der Suche nach Herausforderungen ist. Dafür legt man dann auch gerne viel Geld auf den Tisch, reist um den halben Planeten um irgendwo von einer Klippe zu springen. Aber wenn das Leben eine Herausforderung frei Haus liefert, dann wird gejammert. Irgendwie paradox. Also meiner Meinung nach.

Aber genug davon, vielleicht liege ich auch falsch und habe da irgendwo einen Denkfehler, lasse da gerne mit mir reden. Kommen wir zur eigentlichen Geschichte. Mal wieder etwas anderes, aber lesen Sie selbst.



Tag 8, Lednice, 17:45 Uhr

Es ist passiert, gestern habe ich das erste Mal gegen mein Reisekonzept verstoßen. Statt einfach zum nächsten Bahnhof zu gehen und in den nächsten abfahrenden Zug zu steigen habe ich mich in einen Bus gesetzt. Ok, so groß ist der Unterschied jetzt nicht, aber er ist da. Aber es ist erstaunlich: nach Nancy, Basel, dem kleinen Trip nach Lichtenstein, Wien und Prag hat es mich diesmal in eine ziemlich kleine Stadt verschlagen. Wenig Touristen, überhaupt ist hier einiges anders als in den größeren Städten. Da war es im Grunde immer ähnlich: die Orte, an denen sich die Urlauber rumtreiben, die Einkaufsstraßen mit den immer gleichen Läden, die kleinen „geheimen“ Ecken, die Randbezirke…
So gesehen sind sich alle Städte im Grunde sehr ähnlich, um dann in den Kleinigkeiten aber doch ganz anders als andere zu sein. Irgendwie ein bisschen wie bei Menschen: man findet Oberbegriffe, was weiß ich, Bürohengst, Punk, Nerd, ach keine Ahnung, all diese Einteilungen, um jemanden in eine Schublade zu stecken. Und jeder passt in mehrere dieser Schubladen. Aber trotzdem sind die Verhältnisse bei jedem anders, die ganzen Kleinigkeiten sind verschieden und deshalb ist jeder am Ende halt doch nicht einfach „schubladenfähig“. Und bei Städten ist es das gleiche: ich mag die Teile kennen, aber das Ergebnis ist immer ein anderes.

Gestern war es übrigens sehr knapp, beinahe hätte ich den Weg in ein Internetcafé gefunden. Jetzt schon über eine Woche ohne Handy, ohne Internet, ohne Kontakt zu Familie und Freunden, das ist schon ein komisches Gefühl. Aber darum ging es ja auch, einfach mal testen, ob ich sowas noch kann. Nicht erreichbar sein, nicht ständig auf dem Bildschirm kleben. Manchmal ist es schwierig, aber meistens geht’s ganz gut. Vor allem, weil ich viel mit anderen Menschen in Kontakt treten muss, und das teilweise echt großartig ist. Hatte ich von dem Typen in Wien erzählt? Ich glaube nicht. Den hatte ich abends in einer Bar getroffen, weil ich keine Unterkunft hatte und die Nacht irgendwie rumkriegen musste. Er kam aus England und seine Story war schon krass.

Er hatte Anfang des Jahres seine Urlaubsplanung abgeben müssen und das alles mit seiner Freundin abgestimmt. Aber dann kam es anders: seine Freundin wurde befördert, musste umziehen, Karriere, und am Ende saß er alleine in der ehemals gemeinsamen Wohnung. Und drei Wochen später ging der Urlaub los, ganz toll. Das Schönste war seine Begründung, warum er nach Wien gekommen war. Die beiden hatten natürlich überlegt, wohin sie fahren wollten, und sie schimpfte total über Wien. Viel zu teuer und was weiß ich nicht alles, sie hasste die Stadt und würde da niemals hin fahren wollen. Tja, ich kann verstehen, warum er genau dahin gefahren ist. Es ist schon erstaunlich, wie solche Kleinigkeiten uns beeinflussen. Er fand Wien jedenfalls großartig.

Ich habe auch wieder mein Buch ausgetauscht. Das Letzte, dieses „wissenschaftliche“ Buch, nach dem jeder ein Egoist sein soll und jederzeit rein rational abwägt, wie er sich gegenüber allen anderen besser stellen kann, das jeder im Grunde nur Kosten und Nutzen abwägt und dieses ganze Zeug… Grausam. Sowas soll also Wissenschaft sein? Diese ganzen Modelle aus der Wirtschaft funktionieren selbst dort nur unter irgendwelchen niemals realisierbaren „Optimalbedingungen“, und dann wird das mal eben eins zu eins auf den Menschen und sein Sozialverhalten projiziert? Ist klar. Wenn da tatsächlich was dran sein sollte, wäre dann nicht jede Kommunikation überflüssig? Ich weiß, was das Beste für mich ist und mir wäre klar, dass alle anderen mir nur Böses wollen. Über was soll ich dann reden? So richtig schlüssig erscheint mir das alles nicht. Egal.

Das neue Buch ist ein Roman, und ich bin begeistert. Aber vom Anfang. Ich war in Prag in so einem dieser kleinen Eck-cafés. Wirklich schön, und am Nebentisch saß eine junge Frau vertieft in diesen Roman. Ich fragte, was sie lesen würde und wir kamen ins Gespräch. Sie schwärmte geradezu von diesem Roman. Es war „Tender is the Night“ von F. Scott Fitzgerald. Ich hatte den Namen schonmal gehört, wusste aber nicht mehr genau in welchem Zusammenhang. Jedenfalls erzählte sie ein bisschen und was ich hörte, machte mich neugierig. Ich erzählte von meiner Reise und meiner Idee mit den Büchern. Das ich mit einem Buch gestartet war und sobald ich es ausgelesen hatte es gegen ein anderes austauschen würde. Immerhin war dieses unsägliche Buch schon mein drittes, mein Plan ging also bisher auf. Jedenfalls gefiel ihr diese Idee und wir redeten bestimmt 2 oder 3 Stunden über Romane und was weiß ich nicht alles. Sie studierte Geschichte und hatte sich gerade ziemlich mit den 20er Jahren beschäftigt, Hemmingway, Picasso, Dali, und eben auch Fitzgerald. Da wusste ich auch wieder, woher ich den Namen kannte: dieser Woody Allen Film, „Midnight in Paris“. Sie kannte ihn, natürlich. Wir gingen dann noch eine ganze Weile durch die Stadt und sie zeigte mir ein paar echt schöne Ecken. Am Ende war ich sogar bei ihr zu Hause und wir schauten den Film, ich durfte sogar auf dem Sofa übernachten, was deutlich besser war als wieder ein muchtiges Hostel zu suchen. Am nächsten Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte gab sie mir den Roman, sie hatte nur 2 Bedingungen: ich sollte ihr unbedingt ein Feedback geben und ihn wenn möglich zurückschicken.

Auf der Fahrt nach Lednice begann ich zu lesen, und verdammt, so möchte ich auch mal schreiben können. Das ist großartig. So gesehen war das auch der Grund, warum es mich beinahe in ein Internetcafé verschlagen hätte: soziale Netzwerke nach ihr absuchen und sofort Kontakt aufnehmen. Aber ich hielt mich zurück, meine Reise geht noch ein paar Tage, und ich ziehe das jetzt durch. Ich habe ja ihre Adresse, ich werde vielleicht einen Brief schreiben, ist eh viel schöner, oder?

Aber jetzt mal ein paar Worte zu diesem kleinen Städtchen: es ist wunderschön. So etwas habe ich lange nicht erlebt. Als ich mit dem Bus ankam sah man gleich eins dieser großen, tollen Hotels, da hätte ich schon ahnen können, dass es hier was Spannendes zu sehen gibt. Aber ich interessierte mich mehr für einen alten Mann, der auf dem Parkplatz stand und diese typisch tschechischen Oblaten verkaufte. Ich kam mit ihm ins Gespräch und er erzählte mir, dass er das schon über 30 Jahre machen würde. Ich fand das ziemlich beeindruckend: während jeder Büroarbeiter oder was weiß ich bei uns nach 30 Jahren wohl 2 Burnouts gehabt hätte und total fertig wäre, war dieser Mann ganz anders. Er war total entspannt, lächelte unentwegt, war total freundlich und gab mir ein paar Tipps, was es hier zu sehen geben würde.

Da es schon recht spät war und ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte kam mir ein kleines Hotel mit Restaurant an einem kleinen Hang sehr gelegen. Ich buchte für eine Nacht ein Zimmer, und setzte mich nach dem einchecken auf die Terrasse des Restaurant. Das Essen war, wie eigentlich überall hier, wahnsinnig gut. Dazu kam diese Atmosphäre: die Sonne ging langsam unter, die warme Sommerluft wehte diesen kleinen Hang hinauf, ich kann das gar nicht richtig beschreiben, es fühlte sich einfach gut an. Es war einer dieser Momente, in denen alles einfach, ich weiß nicht, perfekt ist. Man ist einfach zufrieden mit sich und der Welt.

Heute war ich dann in der doch recht kleinen Stadt unterwegs, und das, was ich gesehen habe, verschlug mir den Atem. Ich kann nicht gerade sagen, dass ich ein Faible für Architektur hätte. Vielleicht hat meine damalige Kunstlehrerin daran Schuld. Aber ich konnte mich niemals für Burgen, Schlösser und dieses ganze Zeug begeistern. Jedenfalls nie so richtig. Bis heute. Der alte Mann hatte mir gestern den Tipp gegeben, dass es hier ein altes Schloss geben würde, und da ich ja eh keinen Plan hatte wollte ich es mir ansehen. Schon als ich den Park betrat ahnte ich, dass es anders sein würde als sonst. Diese ganze Parkanlage, die Blumenbeete, das war wunderschön. Und als ich dann vor diesem Schloss stand fehlten mir die Worte. Einfach unglaublich. Erhaben. Was weiß ich, ich kann es nicht beschreiben, es war einfach klasse. Ich setzte mich auf eine Bank im Park und habe dieses Bauwerk bestimmt 30 Minuten einfach angesehen. Ich konnte das gar nicht fassen, so etwas war mir noch nie passiert. Als ich mir danach alles aus der Nähe betrachtete, diese ganzen kleinen Details, das Innere, es war einfach grandios. Und als ob das nicht schon gereicht hätte war neben diesem Schloss eine Art riesiges Gewächshaus, in dem alle möglichen und unmöglichen Pflanzen wuchsen. Die Geräusche da drinnen, die Farben, die Gerüche. Das war auf jeden Fall eins der bisherigen Highlights meiner Reise, und ich befürchte, dass es schwer zu toppen sein wird.

Inzwischen bin ich wieder unterwegs, ich glaube Richtung Ungarn. Ich lass mich überraschen. Mal sehen, was die nächsten Tage für mich bereithalten. Jetzt muss ich erstmal weiterlesen….

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Samstag, 30. März 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 3
Hallo lieber Leser. Sie ahnen, was jetzt kommt. Ich werde Ihnen sagen, dass ich Ihnen eine Geschichte erzählen möchte. Die obligatorische Warnung wird folgen, ich werde Sie auffordern, selber nachzudenken und selber einmal aktiv zu werden. So weit, so bekannt.

Was mich allerdings interessieren würde: haben Sie inzwischen wenigstens einmal auf einen meiner Ratschläge (wenn man sie denn so nennen möchte) gehört? Haben Sie Alltagssituationen einmal genauer betrachtet? Haben Sie selber eine Geschichte erzählt? Ich werde es wahrscheinlich nie erfahren und zugegeben, ein wenig seltsam ist das schon. Bei jeder Arbeit gibt es doch eine Art Feedback. Selbst ein Kassierer in einem Supermarkt kann an der Reaktion des Kunden etwas ablesen. Aber bei kreativen Arbeiten wird die Sache schwieriger. Musiker können auftreten, Künstler ausstellen, und Autoren eigentlich nur Lesungen geben. Um ehrlich zu sein: ich glaube nicht, dass ich jemals eine Lesung veranstalten werde. Würde es jemanden interessieren? Dieser Illusion gebe ich mich nicht hin. Und es wäre wohl auch extrem frustrierend, wenn dann niemand kommen würde. Also bleibt mir eigentlich nur darauf zu hoffen, dass mein Tun vielleicht doch den ein oder anderen motiviert, selbst aktiv zu werden.

Wenn Sie jetzt Zweifeln, ob Sie so etwas könnten, oder wenn Sie sagen, ich hätte ja als Schreibender ja leicht reden, nun, dann hätte ich da eine Idee. In allem, was man tut ist man am Anfang ja nicht gleich ein Experte. Es mag Ausnahmen geben, aber diese sind wohl eher selten. Denken Sie daran, wie Sie Ihr erstes Möbelstück aus dem IKEA Sortiment aufgebaut haben. Oder wie Sie das erste Mal selber etwas gekocht haben. Und vergleichen Sie das mit dem Jetzt. Und, besser geworden? Ich denke, wenn man einfach anfängt, und dann dranbleibt, ab und zu trainiert, übt und etwas Herzblut investiert, kann man nach und nach immer mehr erreichen. Der erste Kuchen ist vielleicht nicht schön, etwas zu trocken und ein bisschen Zucker hätte ja noch ran können, aber der 20. ist eine Augenweide und auf Partys immer sofort vergriffen.

Die eigentlich entscheidende Frage ist doch, ob ich mich traue, etwas zu versuchen. Klar, ich kann scheitern, aber wäre das immer so schlimm? Lernt man nicht auf diese Weise auch wahnsinnig viel? Ich für meinen Teil erzähle gerne Geschichten. Ich fing irgendwann einfach an, sie aufzuschreiben. Und inzwischen genügen diese Geschichten zumindest meinen eigenen Ansprüchen, und schon allein das ist ein gutes Gefühl. Seine eigene Arbeit zu sehen und sagen zu können „Ja, so gefällt mir das.“ Bis man diesen Punkt erreicht hat, kann es dauern, aber man sollte nicht zu schnell aufgeben und auch ein paar Dinge probieren.

Und deshalb probiere ich jetzt auch einmal etwas Neues. Denn die heutige Geschichte dreht sich nicht um einen jungen Mann, sondern um eine junge Frau. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es wirklich anders wird, aber ich habe so etwas noch nie getan. Es ist ein Versuch, ein Anfang. Und damit im Idealfall ein kleiner Schubser für Sie, es auch zu versuchen.


Es war gerade mal kurz nach sieben Uhr, als sich Mary den ersten Sekt einschenkte. Es kam nicht so häufig vor, dass sie ganz alleine Alkohol trank. Vielleicht hier und da mal ein Gläschen Wein, aber das war‘s dann auch. Alleine trinken hatte für sie immer etwas Seltsames, ohne, dass sie genau sagen konnte, was es war. Sie fühlte sich dabei nie so richtig wohl. Als würde man einer Art geheimen Sucht frönen. Dabei war sie weit davor entfernt, süchtig zu sein. Aber so stellte sie sich einfach den Einstieg vor: langsam alleine anfangen und dann immer wieder steigern, bis man nicht mehr aufhören konnte. So ein Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Aber heute war ihr das alles egal. Ein Glas Sekt war heute allemal drin, schließlich gab es etwas zu feiern. Das sie scheinbar alleine feiern musste, verstärkte am Ende nur den Drang nach einem Gläschen. Sie sah auf Ihr Handy. Nichts.

Mit dem Glas in der Hand ging sie in ihr kleines Wohnzimmer, stellte das Glas ordentlich auf einen Untersetzer und setzte sich auf das Sofa. Draußen wurde es langsam dunkler, und um sie herum war es fast schon gespenstisch still. Nur das Prickeln des Sekts in ihrem Glas erfüllte den Raum. Unentwegt stiegen die kleinen Bläschen auf und zerplatzen an der Oberfläche mit diesem herrlichen Geräusch. Mary betrachte das Schauspiel und musste lachen. Was für ein prickelnder Sekt, dachte sie bei sich. Obwohl, war es wirklich so? Sie erinnerte sich an etwas, dass sie vor langer Zeit gehört hatte, worüber sie aber nie groß nachgedacht hatte. Sie hatte gehört, dass diese vielen kleinen Perlen, dieses Schauspiel im Glas, gar nicht vom Sekt selbst herrührte. Vielmehr war es das Glas, das den Sekt zum Tanzen anregte. Genau, so war es. In einem vollkommen ebenen Glas, ohne Unebenheiten, ohne kleinste Staubkörnchen fand die Kohlensäure keinen Halt. Es bildeten sich keine Luftbläschen, es passierte nichts. All diese Geräusche, dieser tolle Anblick, alles war nur möglich, weil das Glas eben nicht vollkommen, nicht perfekt war.

Mary stand auf und ging zum Fenster. Wieder ein kurzer Blick auf das Telefon, doch nichts war passiert. Die Sonne sendete die letzten Sonnenstrahlen des Tages über ein entferntes Waldstück und die Schattenverläufe ergaben davor einen bedrohlichen Eindruck. Sie schaute nochmal auf ihr Sektglas, in dem das prickeln langsam abflaute. So ist es wohl immer, mit der Zeit wird alles irgendwie schwächer. Sie trank das Glas in einen Zug aus, ging in die Küche und schenkte nach. Sofort begann das Sprudeln wieder, als wäre nichts gewesen. Wenn es doch immer so einfach wäre. Einfach ein bisschen nachkippen, und alles ist wieder ok. Das Handy piepte und sie rannte ins Wohnzimmer. Als sie erkannte, dass es nur eine Mitteilung von ihrem Netzbetreiber war hätte sie das Telefon am liebsten zertrümmert. Sie begnügte sich damit, auch das zweite Glas Sekt zu leeren.

Sie nahm die Flasche und das Glas mit ins Wohnzimmer, stellte beides wieder auf die Untersetzer und stellte sich wieder ans Fenster. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Nacht erarbeite sich langsam jeden letzten hellen Fleck vom Tag zurück und hüllte alles erst in ein sanftes grau, bevor es immer dunkler wurde. Mary dachte wieder an das Prickeln, und wie es von der Perfektion verhindert werden würde. War es mit allen Dingen so? Sie sehnte sich so oft nach einem Anzeichen von Perfektion, in allem was sie tat. Sie wollte stets perfekte Arbeit abliefern, perfekte Momente erleben, den perfekten Partner haben. Aber beraubte sie sich damit vielleicht etwas? Ist Perfektion wirklich erstrebenswert, wenn sie jegliches Prickeln im Keim erstickt? Machen nicht kleine Ecken und Kanten, kleine Unebenheiten Dinge viel spannender? Sind Menschen mit kleinen Macken nicht viel interessanter?

Der Sekt begann langsam zu wirken, ihr wurde langsam immer wärmer und ihre Wangen wurden langsam rosig. Selbst wenn es so sein sollte, dass Perfektion nicht das Ziel sein sollte, bestimmte Dinge sollte man doch erwarten können. Acht Monate waren es heute. Auf den Tag genau. Aber scheinbar wusste nur sie das so genau. Vor gerade einmal zwei Monaten sah das noch ganz anders aus. Rosen, ein Essen, ein ganzer Tag der Aufmerksamkeiten. Sie wettete, dass es in zwei Monaten, wenn es dann zweistellig wäre, ähnlich sein würde. Aber heute? Nichts. Frustriert griff sie wieder zum Glas.

Erwartete sie zu viel? War es wirklich so wichtig, an solche kleinen Dinge zu denken? Reichen nicht die großen, wichtigen Momente? Ein halbes Jahr ist so eine magische Grenze, zehn Monate dann wieder so eine Grenze, bevor dann etwas später das erste Jahr folgt. Sowas vergisst keiner. Aber was ist dazwischen? War es OK, die anderen Grenzen einfach zu ignorieren? Sie war traurig, endtäuscht, zornig, aber sie wusste nicht genau, wieso. Weil ihr Handy nicht piepte? Weil sie allein war? Weil vielleicht nur sie sich so viele Gedanken machte?

Nach dem fünften Glas beschloss sie, die Flasche wegzustellen. Es war inzwischen kurz vor elf Uhr und draußen waren nur noch schemenhaft die Umrisse des Waldes zu erkennen, ein paar Wolken zogen auf, aber keine, aus denen es regnen würde. Sie blickte noch einmal auf ihr leeres Glas. So lebhaft das Treiben noch vor kurzen darin gewesen sein mag, es war verflogen. Nichts deutete darauf hin, welch Schauspiel sich dort drinnen abspielen konnte, wenn man nur die richtige Flüssigkeit einfüllte. Und alles, weil es eben nicht perfekt war. Ihr Handy klingelte…

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Montag, 25. März 2013
Kleine Alltagsgeschichten, Teil 2
Hallo lieber Leser, vielleicht erinnern Sie sich an mich. Ich weiß, es ist lange her, dass ich Ihnen eine Geschichte erzählt habe und vielleicht haben Sie diese auch schon längst wieder vergessen. Daher, und für potenzielle neue Leser: mein Name ist Lasse, und ich erzähle gerne Geschichten. Keine großen, weltbewegenden, sondern kleine Alltagsgeschichten. Dinge, die jeden Tag passieren können. Sollten Sie sich an die letzte Geschichte erinnern und darauf hoffen, etwas mehr über Ralph, unseren „Helden“ vom letzten Mal zu erfahren, so muss ich Sie enttäuschen. Diese Geschichte ist erzählt, und dabei bleibt es. Ich persönlich finde, dass man nicht alles ausreizen muss. Die Tendenzen, immer wieder Fortsetzungen, oder neuerdings diese „Prequels“, zu erzählen finde ich sehr traurig. Meiner Meinung nach verlässt man sich zu sehr darauf, dem Leser, oder bei Filmen dem Zuschauer, einfach immer wieder Bekanntes vorzusetzen und darauf zu hoffen, damit dann wieder Erfolg zu haben. Wirklich Neues wird viel zu selten versucht. Zugegeben: ich möchte damit nicht sagen, dass meine Geschichten wirklich etwas Eigenes erschaffen, aber ich finde einfach, dass es manchmal besser ist, Dinge abzuschließen und etwas Neues zu beginnen.

Deshalb wird die folgende Geschichte die eines anderen jungen Mannes sein. Erneut möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es keine wirklich große Geschichte wird. Aber ich habe mir zu Schulzeiten immer eine Frage gestellt: müssen Geschichten immer eine große Botschaft haben? Immer wieder wird man mit Literatur konfrontiert, und immer wieder wird einem gesagt, dieses oder jenes sei die Intention. Da gibt es hochtragende Vergleiche, kleine Worte werden zu zentralen Botschaften, einfache Sätze werden zu allgemeinen Wahrheiten. Doch ist es wirklich so? Schreiben alle Autoren immer aus diesen Gründen? Ich meine, versucht jeder Musiker etwas Großes zu sagen? Eher nein, manche versuchen einfach nur über die Runden zu kommen. In der Literatur wird das eigentlich nur Autoren der „Trivialliteratur“, wie meine damalige Deutschlehrerin es nannte, vorgeworfen. Ein „ernster“ Schriftteller hat gefälligst eine Botschaft zu vermitteln. Immer. Ehrlich gesagt, ich glaube, manchmal übersteigt die Fantasie des Interpretierenden die des Autors um Längen. Aber ich kann mich auch irren.

Doch ganz unabhängig von wichtigen Botschaften finde ich etwas anderes viel wichtiger: stellen Sie sich einfach mal vor, wie es war, als ihre Eltern Ihnen abends im Bett eine gute Nacht Geschichte erzählt haben. Oder wie Sie einer Person, die Ihnen sehr am Herzen liegt, so eine Geschichte erzählt haben und wie sich das anfühlte. Es war vielleicht eine total improvisierte Sache, vielleicht mit ein paar kurzen Hängern, aber war sie deshalb schlecht? Oder war es nicht vielleicht wunderschön? Und jetzt denken Sie mal an all die Bücher, die sie in Ihrem Leben gelesen haben, und wie wichtig diese Bücher für Sie waren. Legen Sie all diese spannenden, bereichernden, tollen Momente auf eine Seite einer Waage. Und auf die andere Seite legen Sie eine gute Nacht Geschichte, die Ihnen eine Person erzählt hat, die Sie geliebt hat und die Sie geliebt haben, mit all den Emotionen, mit all den Dingen, die Sie dabei gefühlt haben. Und jetzt schauen Sie, zu welcher Seite sich die Waage neigt. Wenn es Ihnen wie mir geht, dann wissen Sie jetzt, dass der vielleicht wichtigste Satz in Goethes Faust nicht mit Gott, dem Teufel oder was auch immer zu tun hat. Für mich ist der wichtigste Satz: „Wenn es dir ernst ist, was zu sagen, ist’s nötig Worten nachzujagen?“.
Es kommt nicht darauf an, die beste Geschichte der Welt zu erzählen, es geht darum, sie mit Leidenschaft zu erzählen. Hemingway hat mal gesagt, dass, wenn der Autor über das, was er schreibt genug weiß, kann er Dinge weglassen, aber der Leser wird wissen, dass sie dazugehören. Und ich glaube das ist es, was diese persönlichen Geschichten am Ende erstrahlen lässt. Man weiß genau, wer da erzählt, und man weiß, was es bedeutet, und genau deshalb ist es so wunderschön und besonders.

Aber ich schweife ab, ich wollte ja auch etwas erzählen. Ich werde wohl kaum so eine Wirkung erzielen können, wie die, die ich Ihnen gerade versuchte zu beschreiben. Aber vielleicht erzählen Sie danach selber mal eine Geschichte. Glauben Sie mir, es gibt jemanden, dem sie viel bedeuten wird. Und wenn sie kurz nachdenken werden Sie wissen, wem Sie diese Geschichte erzählen sollten.



Es war noch dunkel, als sich Jeff an den Strand setzte. Er tat das gerne. Einfach in den Sand setzen und aufs Meer schauen, den Wind genießen, dieses schwache Rauschen, oder wenn es stürmte diese teilweise bedrohlichen Klänge der Wellen, wenn sie auf die Küste trafen. Er hatte einen Thermobecher mit Kaffee dabei. Ihm war es schon passiert, dass er hier am Strand einfach einschlief. Eigentlich nicht besonders schlimm, aber er wurde mal böse von jemandem geweckt. Man dürfe nicht am Strand übernachten, und überhaupt, er solle nicht so viel saufen und gefälligst nach Hause gehen. Er hatte nichts getrunken. Und er hatte nicht am Strand übernachtet. Er versuchte zu erklären, warum er eigentlich hier war, und dass er überhaupt keinen Alkohol dabei hätte. Aber so richtig überzeugend kam er sich selbst nicht vor. Deshalb beugte er mit Koffein vor. Es klappte. Meistens.

Der eigentlich Grund für diese morgendlichen Ausflüge war aber eigentlich ganz simpel: er warte auf den Sonnenaufgang. Viele schwärmten immer von wunderschönen Sonnenuntergängen, Cowboys ritten immer in die Nacht hinein. Ihm war die aufgehende Sonne viel Lieber. Sie war der Start in einen neuen Tag, sie beendete nichts, sie startete etwas. Diese Vorstellung gefiel ihm. Ganz egal, wie ein Tag gelaufen war, ob gut oder schlecht, ob man Dinge falsch gemacht hatte, oder auch gar nichts getan hatte: jeden Morgen ging die Sonne auf und gab eine neue Chance, etwas zu tun. Es war ein tolles Gefühl. Er versank in seinen Gedanken und dachte daran, dass er lange nicht hier war. Schon ein paar Monate musste es her sein, er kam einfach nicht dazu. Früher arbeite er eine Weile bei einer Tankstelle und hatte oft Nachtschichten. Meist passierte nicht wirklich viel. Und es gab eigentlich nur drei Arten von Kunden.

Da waren die Fernfahrer, die immer etwas aßen, einen Kaffee trunken (schwarz und stark) und wenn sie alleine waren wenig redeten. Waren es allerdings mal zwei, dann wurde viel geredet. Meist über Straßen, irgendwelche Routen und die zu hohen Spritpreise. Jeff wunderte sich immer, warum es jedes Mal diese Themen waren. Er wäre nie auf die Idee gekommen, von der Zeit in der Tankstelle zu erzählen. Aber diese Leute reden nur über ihre Arbeit, und das in den kurzen Pausen, in denen sie doch eigentlich abschalten sollten. Viel merkwürdiger fand er es aber, dass sie sich so oft über ihre Arbeit beschwerten, aber trotzdem nur dieses eine Thema hatten. Er wurde gelegentlich in die Gespräche miteinbezogen, und er lernte schnell, sich anzupassen. Selbst wenn es um die Benzinpreise ging, konnte er mitreden, obwohl er auf der gefährlichen Seite der Kasse stand. Dem Staat die Schuld geben, den großen Konzernen, das reichte meist um heil aus der Sache rauszukommen. So oft, wie das Thema hitzig diskutiert wurde wunderte er sich allerdings, warum er noch nie überfallen worden war. In den Medien sah man sowas doch häufig. Aber ihm passierte so etwas nicht. Auch wenn er sich manchmal nach etwas Aufregung sehnte.

Die zweite Art von Kunden waren die Frühaufsteher, die zu unmöglichen Zeiten mit der Arbeit anfangen mussten. Belegtes Brötchen und irgendeins dieser „modernen“ Kaffeegetränke, natürlich to go. Kurzer mürrischer Kommentar über das Wetter, und das wars dann auch. Jeff stellte sich diese Menschen in ihren Büros vor, wie sie als erste in die Abteilungen kamen und das Licht anmachten, Kaffee kochten und sich missmutig vor Ihre PC’s setzten. Wie sie viele Stunden mit dem gleichen mürrischen Blick verharren würden um dann mit dem gleichen Gesicht nach Hause zu fahren. Manchmal taten ihm diese Leute leid, er war sich sicher, dass so ein Leben nichts für ihn war.

Die spannendsten Kunden waren allerdings die Jugendlichen, die entweder von einer Party nach Hause kamen oder weil zu Hause der Alkohol ausgegangen war in der Tanke Nachschub holten. Das waren häufig sehr seltsame Gestalten, oft in komischen Kostümen oder mit bescheuerten Hüten auf dem Kopf. Er fragte sich oft, wie armselig eine Party eigentlich sein musste, wenn man um drei oder um vier Uhr morgens zu einer Tankstelle kam um eine überteuerte Flasche Billigwodka zu kaufen. Er verstand so etwas nicht. Aber diese Leute waren nicht ganz so durchschaubar wie die anderen Kunden, da passierte oft etwas unerwartetes, und diese Momente hielten ihn am Ende wach.

Den Job an der Tanke hatte er schon eine Weile nicht mehr, damals war er wenn es passte nach dem Feierabend oft am Strand und schaute sich den Sonnenaufgang an, bevor er nach Hause fuhr. Und heute schaffte er es endlich, sich aufzuraffen, früh aufzustehen und ans Wasser zu fahren. Er sah ein paar Fischer, die mit Ihren kleinen Booten wieder in den Hafen kamen, um ihren Fang zu verarbeiten. Später würde er wieder an ihren kleinen Hütten vorbeigehen müssen, nur dann wären sie erfüllt von Leben. Ihm gefiel das sehr. Obwohl er nicht so viel für Fisch übrig hatte, fand er die Idee, jeden Morgen hier draußen zu sein gar nicht schlecht. Er fragte sich oft, ob diese Fischer beim Sonnenaufgang das gleiche Gefühl hatten wie er, ob sie den Wind, das Rauschen auch so wahrnahmen wie er. Er glaubte nicht wirklich daran. Jeff war neben einer Bäckerei aufgewachsen und auch wenn es jeden Tag nach frischem Brot, nach all diesen Leckereien roch, so wusste er doch, dass es ihm irgendwann gar nicht mehr auffiel. Wenn er heute eine Bäckerei betrat merkte er manchmal noch, wie sich das anfühlte, und wie traurig es war zu erkennen, dass er es irgendwann nicht mehr wahrnahm. Den Fischern ging es wahrscheinlich genauso. Gewohnheit lässt Dinge, die eigentlich groß und schön sind zu Nebensächlichkeiten werden. Leider.

Jeff nahm noch einen kräftigen Schluck aus seinem Becher und er rieb sich die Augen. Er hatte die Zeit ein bisschen falsch eingeschätzt und war eindeutig ein bisschen zu früh an den Strand gefahren. Er wunderte sich, warum er nie jemanden am Strand gesehen hatte, der auch den Sonnenaufgang sehen wollte. Gab es da draußen niemanden, der daran Gefallen fand? Oder waren einfach alle zu faul? Vielleicht schien so etwas Alltägliches wie ein Sonnenaufgang auch viel zu banal, um dafür extra früh aufzustehen. Er überlegte, wann er das letzte Mal in Gesellschaft einen Sonnenaufgang gesehen hatte. Auch das war sehr lange her.

Er war in einem Club und unterhielt sich mit einem Mädchen. Jeff wusste nicht mehr, worüber sie eigentlich redeten, aber irgendwann wurde die Musik so schlecht, dass sie den Club verließen. Auf dem Weg zu ihr nach Hause erzählten sie einfach weiter und als die beiden vor Ihrer Wohnungstür ankamen setzten sie sich auf die kleine Treppe davor. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich nur daran erinnern, dass sie einen Hamster hatte und der auf den etwas schrägen Namen Hackfleisch hörte. Aber das Gespräch muss ein Gutes gewesen sein, denn als die Sonne aufging saßen die beiden immernoch auf dieser kleinen Treppe und genossen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des neuen Tages. Kurz danach verabschiedeten sie sich und Jeff ging nach Hause, der Sonne entgegen. Wäre es ein Film gewesen, es hätte nicht kitschiger sein können. Danach sah er das Mädchen noch ein paar Mal, man grüßte sich, aber so richtig unterhalten hat er sich nie wieder mit ihr. Und auch wenn er nicht wusste, worüber sie eigentlich redeten, so wusste er doch, dass der Abend gut war.

Langsam wurde es heller, und dann war es soweit. Die ersten Sonnenstrahlen schossen über die Wasseroberfläche, wurden reflektiert und verstärkt. Der Ostwind wurde genau jetzt ein bisschen stärker und wehte die salzige Luft an den Strand, während im Hintergrund erhaben die Sonne aufging und alles erhellte. Jeff atmete tief ein, schloss die Augen und wusste, er würde wieder öfter herkommen.

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Kleine Alltagsgeschichten, Teil 1
Ich nehme man, Sie kennen mich nicht. Woher sollten Sie auch. Ich bezweifle stark, dass Sie mich jemals gesehen haben, sogar, dass Sie mich je sehen werden. Denn wenn ich bedenke, wo ich herkomme...
Aber wo bleiben meine Manieren? Ich sollte mich wohl ersteinmal vorstellen. Mein Name ist Lasse. Und ja, es ist ein ziemlich blöder Name. Ich habe keine Ahnung, was meine Eltern sich dabei gedacht haben. Also sparen Sie sich bitte die Witze. Ich kenne sie alle. Oder zumindest fast alle. Und auch wenn ich gestehen muss, dass ein paar wirklich gut waren, so waren die meisten doch einfach nur dämlich. Dumm nur, dass es immer die sind, die man zu häufig hört. Manchmal wünsche ich mir wirklich einen etwas „normaleren“ Vornamen. Irgendwas wie Robert oder von mir aus auch Kevin, wenns denn sein muss. Zugegebenermaßen sind diese Namen etwa so kreativ wie ein „Müller“ als Nachname, aber vielleicht erspart einem sowas dumme Sprüche.

Sollten Sie jetzt, wohl vollkommen zurecht, denken: „was will dieser Idiot eigentlich, warum erzählt der soviel sinnlosen Zeug?“, sind Sie wahrscheinlich nicht allein mit dieser Meinung. Nun, ich möchte nichts anderes als Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die in etwa so alltaglich wie unspektakulär ist. Für Unbeteiligte wird es im ersten Moment aufgrund der Normalität, der Tatsache, dass sich diese Geschichte tausende Male jeden Tag wiederholen könnte und es wahrscheinlich sogar tut, stinklangweilig wirken. Es ist eine Geschichte, wie sie wohl dutzende Male erzählt wurde. Und dennoch werde ich sie Ihnen erzählen. Sie fragen warum? Weil ich glaube, dass jeder, der so etwas einmal, ein einziges Mal erlebt hat, jeder, der so ein kleines Alltagsmärchen kennt, für einen kurzen Moment an seine eigene Geschichte denken wird. Weil diejenigen, die so etwas nicht kennen, vielleicht dazu getrieben werden, eine eigene kleine Alltagsgeschichte zu erleben.

Doch ganz egal, wie das, was jetzt folgt auf Sie wirken mag, ganz egal, ob folgende Geschichte jemanden interessiert oder nicht: erzählt werden sollte sie allemal. Weil jeder seine eigene kleine Story hat, und jede ist es wert, erzählt zu werden. Denn ganz egal, wie unbedeutend sie anderen erscheint, wichtig ist nur, was man selbst draus macht.
Die kleine Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, handelt von einem Jungen namens Ralph. Alles beginnt an einem wunderschönen Sommertag. Unser „Held“ ist mit ein paar Freunden auf einem Open-Air-Konzert.

„So Leute, ab zur Bühne! Plätze sichern!!!“

Ralph war total euphorisch. Was für ein toller Tag, was für ein Wetter. Die Sonne strahlte zum ersten Mal seit Tagen. Es war heiß, eine leichte Briese wehte über das Gelände und überall waren Menschen in freudiger Erwartung auf ein tolles Konzert. Nur Ralphs Freunde schienen nicht ganz so begeistert.
„Hey, mach mal ganz ruhig Ralph. Wir haben hier einen wunderbar bequemen Platz auf einer wunderbaren Bank. Vor uns stehet ein Tisch mit unseren kalten Getränken. Die Band, wegen der wir eigentlich hier sind, spielt eh erst zum Schluss, bis dahin ist noch ewig Zeit. Ausserdem ist da keine Sau vor der Bühne, was willst du da sichern?“
Ralph hasste es, wenn sie das taten. Da saßen sie, seine besten Freunde, mit denen er schon soviel erlebt hatte. Nur was Konzerte betraf, da mussten sie noch viel lernen. So richtig schaffte es Ralph aber nicht, seine Begeisterung auf sie zu übertragen.

„Ihr seit auch ein träger Haufen. Macht was ihr wollt. Geh ich halt allein.“

Wie immer erntete er nur unverständige Blicke und Kopfschütteln. Doch nach all diesen Jahren war Ralph es gewohnt, dass seine Aktionen so aufgenommen wurden. Es war ihm egal. Er war halt etwas überdrehter als der Rest, wenn es um Musik ging. Auf einem Konzert rumsitzen? Höchsten zum verschnaufen. Wenn überhaupt. Aber als Hauptbeschäftigung? Pah! Da könnte man ja gleich ne CD auflegen. Auf solchen Veranstaltungen gibt es so viel besseres zu tun als rumzusitzen.

Ralph zog los und erkundete das Gelände. Es war eigentlich alles wie immer: Bierzelt hier, Bratwurststand da, der mobile Bierwagen da, wieder irgendwas mit Essen, ein Paar Sanitäter und der obligatorische Verkaufsstand der Bands. Viel spannender für Ralph war aber etwas anderes. Denn auf solchen Events kam er nicht daran vorbei, seine kleine Psycho-Studie durchzuführen. Es war zwar nicht wirklich eine Studie, aber es war mit das spannenste, was man auf Konzerten tun konnte: der T-Shirt-Check.

Welche coolen Motive, welche dummen Sprüche und vor allem welche Band-Shirts würden ihm heute begegnen? Ralph hatte inzwischen bestimmte Muster ausmachen können. Er könnte relativ genau vorraussagen, welche Shirts er auf welchen Konzerten sehen würde. Und anhand der Mode konnte man auch erkennen, wie die Bands klingen würden, die auftraten.

Heute waren neben den üblichen Verdächtigen wie „Nirvana“, den „Ramones“ oder auch den „Ärzten“ auch ein paar Raritäten. „Muse“ sah man nicht so häufig. Und „Hot Hot Heat“ waren auch nicht gerade Standartware. Zu seiner Überraschung sah Ralph sogar jemanden mit dem gleichen „Tomte“ Shirt, dass er trug. Es waren diese Kleinigkeiten, die Ralph ein Lächeln auf das Gesicht zaubern konnten. Bandshirts waren für ihn nicht einfach nur Kleidungsstücke, sie waren eine Art Statement. Aber vor allem waren sie eine wunderbare Art, zu selektieren. Man konnte erkennen, wer wie tickte. Und man konnte anzeigen, wie man selbst tickte. Bei den unpassensten Gelegenheiten trug Ralph Shirts von Bands. Denn eins war ihm klar: diejenigen, die es lasen hatten 2 Möglichkeiten: fragen, was es bedeutet, wenn da „Tomte“ auf der Brust prankt und dann ein Gespräch beginnen (die Guten), oder es einfach blöd finden und schweigen (die Bösen). Kenner der entsprechenden Band wurden automatisch zu Guten, zumal diese Leute sowieso schnell ein Gespräch begannen.

Auf diese Art und Weise bekam Ralphs Studie eine ungeheure soziale Komponente. Potenzielle Gesprächspartner konnten leichter identifiziert werden, ohne das man ein Wort sagen musste. Manchmal fragte er sich, ob er der Einzige war, der solche Ideen hatte, oder ob es doch mehr Leute gab, die auf solche Sachen wie T-Shirts achteten und daraus auf die Menschen hinter dem Stoff schlossen. Immernoch in seinen Gedanken vertieft lief er über das Gelände und musste unwillkürlich lachen, als er ein „Kettcar“-Shirt erblickte. Er wollte sich den Träger gerade genauer betrachten, als er plötzlich mit jemandem zusammenstieß.

„Oh, sorry. Ich hab wohl geträumt. Alles OK bei dir?“

Ralph hatte die Worte gesagt, bevor er bemerkte, mit wem er da kollidiert war. Vor ihm stand ein unverschämt gutaussehendes Mädchen und lächelte ihn mit dem sympatischten Lächeln an, dass er jemals gesehen hatte. Für einen Moment vergaß er alles um sich herum. Seine Studie, die Stände, die anderen Leute, er vergaß sogar den Mund zu schließen. Ihm wurde klar, wie dämlich er gerade schauen musste und er versuchte zu lächeln. Er bemerkte ihr „Madsen“-Shirt. Eins war mal klar: Sie war eine von den Guten. Da gab es nicht den geringsten Zweifel.

„Alles Bestens. Kein Problem. Und hey, schickes Shirt. Tomte sind klasse.“

Wieder lächelte sie, doch bevor Ralph noch etwas sagen konnte ging sie weiter. Er sah ihr nach und für einen kurzen Moment wollte er ihr nachgehen, sie ansprechen, irgendetwas sagen, und noch einmacl dieses Lächeln sehen. Doch ohne zu wissen warum, schlug er es sich aus dem Kopf.

„Hab ich dich endlich gefunden. Dachte du wolltest zur Bühne?“
Hinter Ralph stand Brian und grinste ihn an.

„Dachte, du willst nicht die ganze Zeit alleine hier rumlaufen, und mir ging das sitzen auf'n Keks.“

Ralph freute es riesig, dass wenigstens auf einen seiner Freunde verlass war. In diesem Moment war es ihm sogar egal, ob Brian genauso gerne wie er selbst zur Bühne wollte um die Musik zu genießen oder ob er nur hier war, weil er nicht wollte, dass Ralph alleine war. Entscheidend war, das Brian da war. Auf ihn war irgendwie immer Verlass. Beide machten sich auf den Weg in Richtung Bühne, in freudiger Erwartung auf ein tolles Konzert.


Und hier endet auch schon der erste Teil meiner kleinen Geschichte. Habe ich zu viel versprochen? Alltäglich, nichts besonderes. Tausendmal erzählt, wahrscheinlich wurde eine so unspektakuläre Geschichte sogar schon tausende Male spannender erzählt. Also was soll das Ganze? Mh, gute Frage. Ich wette Sie hatten, trotz meiner Warnung, etwas größeres erwartet. Oder irgendetwas spannendes. Ein Gespräch zwischen Ralph und dem Mädchen, wenigstens ein paar mehr gewechselte Worte. Oder zumindest ihren Namen. Doch ich muss Sie enttäuschen: da war nicht mehr. Ralph sah sie an diesem Abend nicht wieder. Gespräche fallen also flach. Auch erzählte Ralph nichts von dem Mädchen. Nicht einmal Brian, der, wenn er ein paar Sekunen früher gekommen wäre, das Mädchen auch gesehen hätte. Ich kann sogar soweit gehen und Ihnen erzählen, das Ralph sich am nächsten Morgen nicht mehr an sie erinnern konnte. Er hatte sie, um erhlich zu sein, nach ein paar Minuten vergessen. Wie häufig kam es vor, dass man auf Konzerten mit anderen zusammenstieß? Zu häufig. Sicher, man wird nicht immer so angelächelt, aber trotzdem vergaß er es einfach.

Warum also erzähle ich Ihnen das alles, wenn da nicht der Hauch von einem tieferen Sinn zu sein scheint? Ich wollte Ihnen etwas bewusst machen. Sie wollen wissen was? Ich erzähle es Ihnen. Gleich. Vorher möchte ich Sie etwas fragen. Diese kleine, alltägliche Geschichte, die Ralph erlebt hat, kennen Sie so eine Situation? Oder etwas ähnliches? Ich weiß, dass ich Ihre Antwort nie erfahren werde, aber ich vermute mal, dass Sie mit „ja“ oder wenigstens „na so in der Art“ geantwortet haben. Und? Wie haben Sie in Ihrer Situation reagiert? Haben Sie, wie Ralph, so einen flüchtigen Moment verstreichen lassen, bis Sie nicht einmal mehr wussten, dass er überhaupt da war? Dann geht es Ihnen so wie mir. Ich würde so einen Moment wohl auch verfliegen lassen, ohne groß darüber nachzudenken. Ich würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wie besonders solche winzigen Begegnungen sind. Und ich glaube fast, dass ich da nicht der Einzige bin. Deshalb möchte ich Ihnen diese Geschichte erzählen. Nennen Sie es missionarischen Eifer, nennen Sie sinnlose Dickköpfigkeit, aber ich möchte Sie ein wenig sensibilisieren. Ich möchte, dass Sie, wenn Sie einmal in so eine Situation kommen für den Bruchteil einer Sekunde bewusst entscheiden, was sie tun.
Mir ist vollkommen klar, dass ich mit diesen ersten kleinen Teil der Geschichte wohl nicht genug Anreize geschaffen habe, um Ihnen bewusst zu machen, warum Sie nachdenen sollen. Aber Sie vermuten richtig: wo ein erster Teil, da ist zumindest auch ein zweiter Teil. Er spielt zwei Jahre nach dem Open-Air. Nach dem Mädchen mit dem Madsen-Shirt. Sicher ist in diesen 2 Jahren sehr viel passiert, doch das spielt ersteinmal keine Rolle. Wichtig ist der folgende Abend. Ralph, mal wieder mit Brain auf dem Weg zu einem Konzert. Doch Sie wollen nicht alleine dorthin. Zwei Freundinnen von Ralph werden auch da sein. Ausserdem wollten die Mädchen noch eine Freundin mitbringen. Aber lassen sie sich überraschen.


"Wer war heute Abend nochmal da?" Brian war etwas aufgeregt, schließlich kannte er die Mädchen, mit denen Ralph in letzter Zeit öfter unterwegs war noch nicht.
"Hab ich dir doch gesagt. Also, zum hundersten Mal: die beiden heißen Cleo und Sara. Ist doch nicht so schwer. Gibs zu, du bist nervös."
Brian lächelte verlegen, wahrscheinlich hatte Ralph recht.
"Aber mach dir mal keine Sorgen, die sind wirklich cool. Ok, ein bisschen crazy zwar, aber voll in Ordnung. Wirst sie mögen."
Und wenn Ralph das sagte, dann musste es stimmen. Er hatte irgendwie ein Gespür für so etwas. Ein Händchen wenn es darum ging, Leute zu treffen. Die richtigen Leute. Er konnte innerhalb kürzester Zeit Menschen einschätzen, und meist lag er richtig. Es konnten ihm nur wenige etwas vormachen, wenn es darum ging.
"Ahso, eins hab ich vergessen. Sie bringen noch ne Freundin mit. Aber frag mich nich, ich kenn sie auch noch nicht. "
"Nichtmal den Namen?"
"Ne, nichtmal den. Aber wenn sie ne Freundin von den Mädels ist, kann sie eigentlich nur eine von den Guten sein." Ralph dachte nicht nach, als er diese Worte sagte. Ihm war nicht klar, dass er seine Einteilung in die "Guten" und "Bösen", die häufig durch die Interpretation von T-Shirts entstand, nie jemandem erklärt hatte.
"Hä? Eine von den Guten? Was redest du denn?" Brian blickte verwirrt drein, aber irgendwie war er nichts anderes von Ralph gewohnt. Manchmal konnte man ihm einfach schlecht folgen.
"Nicht so wichtig. Jedenfalls glaub ich, dass sie auch in Ordnung ist."
Damit war das Thema abgehakt und sie verbrachten den Rest der Fahrt wie sonst auch. Gespräche über Computerspiele, Fachsimpeleien über Musik und sogar der ein oder andere Kommentar über Frauen, es war alles wie immer. Nur das beide angespannter wirkten als sonst. Schließlich würden sie beide in Kürze neue Leute kennenlernen.

Als sie vor der Halle ankamen dauerte es nicht lange, bis Ralph Cleo und Sara in der Masse von Menschen, die alle in freudiger Erwartung vor dem Eingang standen, entdeckte. Auch sie schienen ihn gesehen zu haben, denn sofort winkten sie ihn rüber und kamen schon in seine Richtung. Brian atmete ein letzten Mal tief ein, als wüsste er nicht genau, was ihn jetzt erwarten würde. Und dann standen sie sich gegenüber. Die zwei Jungs auf der einen Seite, die drei Mädchen auf der anderen. Jetzt erst bemerkte Ralph sie. Die "Freundin", wie Cleo und Sara ihm gesagt hatten. Sie lächelte ihn an, wie er lange nicht mehr angelächelt wurde und für einen Moment wusste er nicht, was er sagen oder tun sollte.
"Hey Ralph, schön dich zu sehen. Wir warten schon ne halbe Ewigkeit."
"Was? Oh, sorry, ich bin zu spät, kam nicht zu Hause los. Und Brian war auch noch nicht ganz fertig, als ich dann bei ihm war."
"Das war natürlich klar, dass du es auf mich schieben musst. Naja, also ok. Wir sind wegen mir zu spät. Ich bin übrigens Brian, bis vor kurzem bester Freund von dem Typen hier." Ralph bemerkte den Seitenhieb nicht einmal, denn er war immernoch von diesem lächeln fasziniert. Seine Gedanken waren irgendwo anders, ohne das er genau wusste, wo. Dieses Lächeln war ihm vertraut, ohne dass er wusste, woher.

"Na endlich lernen wir dich mal kennen. Ralph hat schon ne Menge von dir erzählt. Nicht war Cleo?"
"Ach, hat er das?"
"Jep. Hin und wieder sogar was gutes." Sara grinste Brian an, der im ersten Moment nicht so ganz wusste, wie er mit diesem Kommentar umgehen sollte. Es stimmte: die Mädchen waren etwas crazy, aber sympatisch. Doch was war mit Ralph, er war so verdammt still. Auch der Rest der Gruppe schien es zu bemerken.
"Ahso, und dass hier ist Jem. Ihr kennt euch ja noch gar nicht."
Jem lächelte in die Runde, und Ralph spürte, wie er etwas sagen wollte, doch was? Und dann passierte es. Seine fatale Schwäche. Seine verdammte Studie siegte über ihn, ehe er es bemerkte.
"Cooles Shirt. Olli Schulz ist grandios." Kaum hatte er die Worte gesagt, wollte er sich schlagen, oder einfach nur im Boden versinken. Er fragte sich, wie doof er eigentlich sein könnte. Wieso um alles in der Welt sagt er als erstes etwas über ihr Shirt?
"Oh, danke. Er ist wirklich toll. Aber Tomte sind auch richtig gut." Und wieder lächelte sie ihn an. Ralph konnte seinen Augen und seinen Ohren nicht trauen. Dieses Lächeln, und sie hatte sein Shirt gesehen. Das er so oft trug, dass so viel erlebt, und so viel überlebt hatte. Trotz eines Brandloches trug er es immernoch mit Stolz. Und sie hatte es bemerkt, sie hatte die Band erkannt, und sie lächelte. Er wusste es: sie war eine von den Guten. Ohne Zweifel.
"Na gut, ich denke wir sollten langsam mal rein, Plätze sichern."
"Sara hat Recht, lasst uns gehen."
Brian schloss sich sofort den Mädchen an, während Ralph, immernoch wie in Trance nicht in der Lage war sich zu bewegen, bis Jem plötzlich das Wort ergriff.
"Wir sollten auch gehen, sonst sind die besten Plätze weg."
"Ich.. ja, du hast Recht. Vor die Bühne?"
"Klar, sonst würde ich ja ne CD auflegen."
Bei diesen Worte musste nun auch Ralph lachen. Beide standen sich noch einen kurzen Moment gegenüber und sahen sich in die Augen, ohne etwas zu sagen. Dann gingen sie in die Halle, und insgeheim wusste Ralph, dass der Abend nur gut werden konnte.



So, das wars. Der zweite Teil ist damit auch schon vorbei. Und ja, ich gebe es zu: wieder nicht viel passiert, wieder alltäglich. Sie wollen wissen, was an diesem Abend, was danach passiert ist? Sie warten auf Teil drei? Nun, dann muss ich Sie enttäuschen. Es gibt keinen Teil drei. Zumindest keinen, den ich Ihnen erzählen werde. Denn es spielt keine Rolle, was danach passiert ist. Es geht mir nicht darum, so eine Art Geschichte zu erzählen. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen am Anfang gesagt habe? Sie sollen an Ihre eigene Geschichte denken, und später sagte ich Ihnen, dass sie in solchen Momenten bewusst handeln sollen. Erkennen Sie jetzt, was ich bezwecke, bemerken Sie, was das alles soll? Es ist nicht entscheidend, was an diesem Abend passiert. Wichtig ist etwas anderes. Denn Sie und ich wissen etwas, das Ralph und das Mädchen nicht wissen: Sie waren sich schon einmal begegnet. Es war das Mädchen mit dem Madsen-Shirt, dass Ralph an diesem Abend traf. Zwei Jahre, nachdem sie sich das erste Mal gesehen und vergessen hatten. Nur, warum hatten sie sich vergessen? Weil sie nicht miteinander gesprochen hatten, oder weil sie eine Situation nicht richtig bewertet und deshalb vielleicht nicht so gehandelt haben, wie sie hätten handeln sollen? Möglicherweise. Denn eins ist auch klar: an diesem Abend werden sie miteinander reden, einfach "nur", weil sie gemeinsame Freunde haben. Vielleicht werden sie sich verstehen, vielleicht auch nicht. Vielleicht werden Ralph und Jem Freunde, vielleicht mehr, und vielleicht mögen sie sich überhaupt nicht. Aber erkennen Sie jetzt, was das entscheidene ist? All das, was an diesem Abend, ganze zwei Jahre nach dem ersten flüchtigem Treffen, passiert, alles, was danach kommen wird, hätte schon viel früher beginnen können. Zwei Jahre, in denen Ralph und Jem nichts von der Existenz des anderen gewusst haben, hätten für sie möglicherweise anders verlaufen können, wenn sie in einem flüchtigen Moment anders agiert hätten. Ich will nicht beurteilen, ob es besser gewesen wäre, ich will nicht sagen, dass sie falsch gehandelt haben, und ich habe bewusst keinen dritten Teil zu berichten, damit Sie sich selbst ausmalen können, was zwischen den Beiden passieren kann. Und dann entscheiden Sie selbst, ob die zwei Jahre vielleicht nicht besser hätten genutz werden können. Entscheiden Sie, ob der Augenblick, den die beiden bei ihrem ersten Treffen teilten, nicht anders hätte genutzt werden können. Und dann machen Sie sich bewusst, dass Sie schneller als Sie glauben in so eine Sitation kommen können. Denn sie ist alltäglich. Doch wenn es Ihnen jetzt passieren sollte, tun sie mir einen Gefallen: denken Sie an Ralph und Jem, und überlegen Sie, was Sie tun. Denn es sind manchmal nur Sekundenbruchteile, in denen wir uns für etwas entscheiden müssen. Und manchmal entscheiden diese Bruchteile über ganze Jahre.

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